Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

3.5 Die Tragödie der Macht - Schwerpunkte der szenischen Aktion

Chéreaus "Ring" ist formal als Mythologie des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet, wobei die mythischen Elemente vermischt sind mit Elementen der Ideologie. Im folgenden sollen die sich aus dieser formalen Gestaltung resultierenden inhaltlichen Schwerpunkte betrachtet werden. Wagner hat in den ertsen Entwürfen zum "Ring" versucht, die Utopie des freien Menschen zu entwerfen. Verzweifelt versuchte er in der Figur Siegfrieds diesen Menschen entstehen zu lassen, sein Kommen zu verkünden. Es ist bereits gezeigt worden, wie Wagner dieses utopische und stets wiederkehrende Suchen in die Welt der germanischen Götter projizierte; auf die gleiche Art also, wie ihn die Menschen vorher in den prometheischen Mythos projiziert hatten. Doch für Patrice Chéreau ist der "Ring" mehr als dieses Suchen nach dem freien Menschen, "selbst wenn man von dieser Utopie, auf der Wagner so beharrt, etwas lernen könnte" (38,428).

Der "Ring" ist vielmehr eine überwältigende Vision Wagners von der Macht, von der politischen Macht, von der Gesellschaft und dem modernen Staat. Der "Ring" ist vielleicht eine Art Vorahnung, eine Beschreibung der Mechanismen der Macht: wie man sie an sich reißen und wie man sie verlieren kann. (38,428f.)

Betrachtet man den "Ring" unter diesem Blickwinkel, dann wird es verständlich, daß Wagner die Figur Wotans im Verlauf der "Ring"-Entstehung immer mehr in den Vordergrund rückt. Wenn es im "Ring" eine Hauptfigur gibt, so Chéreau, dann ist dies eindeutig Wotan. Auch der französische Philosoph André Glucksmann, mit Chéreau persönlich befreundet und an den vorbereitenden Gesprächen zum "Ring" beteiligt, rückt den "Ring" weit ab vom Humanismus, von vergeblichen Diskussionen über Liebe und Freiheit, entfernt das Werk auch von den rein marxistischen Interpretationen. Für Glucksmann handelt es sich bei Wagner um einen Diskurs über die Mechanismen der Macht. Von Glucksmann erhielt Chéreau die entscheidende Anregung für seine "Ring"-Interpretation. (65)

Das zentrale Problem ist nicht das Gold, sondern Wotan. Und schon erhebt sich Wagner ein für allemal über all die marxistischen Palmwedel, mit denen man sein Haupt hätte umwinden wollen. Hinter dem Ringdiebstahl das Unternehmen Wotans. Hinter dem Phantasmus des Kapitals die Machtfrage. Die gewinnsüchtigen Götter brauchen Endkämpfe. Wenn Walhalla, die Macht, die verbotene Stadt, der Palast des Zentral-komitees in Brand stehen, dann brennt alles. Ich oder das Chaos. Tabula rasa als Regierungsmethode. [...] Warum affimiert sie sich in der Planifizierung der Katastrophen? Warum kennt sie nur eine Geschichte, die eines nicht endenwollenden Countdown? Warum stellen die Staaten ihre Uhren nach der Zeit der Apokalypsen? Warum werden die Götter zur Dämmerung geboren? (Glucksmann. 24,275)

Diese Gedanken Glucksmanns verweisen revolutionäre Auslegungen, unzureichende marxistische Analysen (wie die von Shaw) und auch "gewagte Gleichmachungen mit dem Nazitum" (Chéreau. 11,69) auf ihre Plätze. Wie aber verhält sich diese Interpretation zur mythologischen Struktur im "Ring"? In den vorangegangenen Abschnitten meiner Arbeit habe ich bereits zu zeigen versucht, daß Wagners "Ring" nicht als Mythos im traditionellen Sinn aufzufassen ist, weil er nicht, wie im Mythos üblich, die Verkörperung von Göttern und Helden anstrebt. Im griechischen Drama zum Beispiel wurde diese Verkörperung noch in einem quasi-religiösen Kultakt vollzogen. Nichts davon bei Wagner, ihm geht es nicht um die reale Präsenz des Göttlichen, um das Lebendigwerden des Mythos auf der Bühne, sondern er "leiht sich alte Mythen aus, die zur Literatur geworden sind. Aus den geliehenen Personen, Charaktere, Ereignisse stellt er ein neues Theaterstück zusammen" (Schmid. 38,389).

Dieses Theaterstück ist dem modernen Theater näher als der griechischen Tragödie. Aus den ästhetischen Schriften Wagners geht hervor, daß für ihn das moderne Drama seinen Ursprung in den Stücken Shakespeares hat. Auch Chéreau geht konsequent auf diese Quelle des modernen Dramas ein, wenn er Wagners "Ring" unter Berücksichtigung der Interpretationsansätze Glucksmanns näher an Shakespeares Tragödien rückt.

Jede Epoche wird auf ihre Weise die Tragödie der politischen Macht schreiben, mit einem mehr oder weniger apokalyptischen Ende. Shakespeare hat das mit seinem "König Lear" getan, den Wagner sehr gut kannte und der dem "Ring" nicht unähnlich ist. In der Er-wartung, welches Werk uns das moderne Zeitalter über dieses Thema bringen wird, spinnen wir den Faden weiter, der von Shakespeare über Wagner zu uns führt. Wir wissen jedenfalls eines: [...] auf der Bühne wird nur eine einzige Mythologie zu sehen sein - unsere Mythologie, die Mythologie der Gegenwart. ( Chéreau. 20,134)

Um diese Sicht auf Wagners Tetralogie richtig nachvollziehen zu können, muß wenn man sich nochmals die künstlerische Entwicklung Chéreaus als Regisseur, wie sie in Kapitel 2.3 meiner Arbeit beschrieben wurde, vor Augen führen. Das Theater ist für Chéreau weder der Ort für direkte revolutionäre Agitation, noch für zeitunabhängige und somit unaktuelle Fabeln. Das Theater ist vielmehr ein Ort, an dem mittels allegorischer Systeme Spiegelbilder unserer Gesellschaft gezeigt werden. Warum gerade Wagners "Ring" in den 70er Jahren als politische Allegorie entdeckt wurde, habe ich in der Beschreibung der Entwicklung von Brecht über die Shakespeare-Renaissance, wie Günther Erken sie beschreibt, zu verdeutlichen versucht (Vgl. auch hier Kapitel 2.3).

Auch der scheinbare Widerspruch zwischen mythologischer Fabel auf der einen Seite und aktualisiertem, historisch fassbarem szenischen System auf der anderen läßt sich so mindern und aufheben. Peter Wapnewski bemüht zu diesem Zweck die Formel von Hamlet im Frack, eine Redewendung, die in nuce das gleichermaßen theaterhistorische wie theatertheoretische Problem der Aktualisierung alter Dramen verdeutlicht: "Hamlet im Frack mag gehen, Prometheus im Frack wäre nur albern wäre peinlich" (46,263). Dadurch, daß Chéreau den "Ring" als ein Drama im Sinne einer Shakespearschen Tragödie betrachtet, sind Wotan im Gehrock, Hagen im Straßenanzug und Gunter im Frack möglich. Es sind schließlich keine Figuren einer Mythologie, die eine Verkörperung göttlicher Macht auf der Bühne vorführen will, sondern Figuren einer Tragödie der politischen Macht; Figuren einer Tragödie, die Aussagen über die Gegenwart unserer Gesellschaft macht. Wie bei Shakespeare ergibt sich für Chéreau auch bei Wagner der besondere theatrale Reiz und die damit verbundene Wirkung dieser Tragödie aus dem Wechselspiel von historischer Nähe und mythisch-archaischer Distanz.

3.5.1 Ein kurzes Verlaufsmodell der Tragödie der Macht

Wotan wird in der Abfolge der "Ring"-Entwürfe Wagners einem Gott immer unähnlicher, einem Politiker immer ähnlicher. Er und seine Mitgötter sind Unternehmer, sind Verwalter der Natur, die Herren neuer Maschinen. Die Götter erinnern den Zuschauer eher an Romanhelden von Jules Verne, an jene Mischung von Robinson Crusoe und genialem Ingenieur des 19. Jahrhunderts, in dem sich Wissenschaft und Technik zu göttlicher Allmacht emporträumen. "Ich dachte an eine Bourgeoisie, die sich verkleidet und sich in ein germanisches Pantheon hineinträumt" (Chéreau. 11,55). Die Gewalt, die Wotan der Natur zufügt, ist alt und setzt nicht erst mit Beginn der "Ring"-Handlung ein.

Die Nornen erzählen uns ja, daß Wotan die heile Welt erheblich zerstört hat. Von ihnen erfahren wir, daß es eine Geschichte gibt, die sich vor dem Raub des Rheingoldes ereignete. (Chéreau. 11,70)

Die Verbauung und Einmauerung der Welt findet als weithin sichtbares Zeichen der Macht in Walhall nur ihre Krönung. Den ersten Schritt in Richtung Apokalypse hat Wotan lange zuvor gemacht. In Gang gesetzt wird die eigentliche, unheilvolle Entwicklung hin zur Katastrophe mit dem Auftritt Alberichs im "Rheingold". Alberich ist der Macht- und Besitzlose, der mit seinem verzweifelten Willen zur Gegenmacht durch Lieblosigkeit gegen Wotans Macht rebelliert. Doch Wotan hebt die unrechtmäßige Gegenherrschaft Alberichs nicht auf, sondern bemächtigt sich, in den Mantel legalistischer Macht gehüllt, auch des verbrecherischen Machtrings. Mit dem Einzug der Götter in Walhall hält Wotan nach wie vor am unbeweglich gewordenen Gebäude seiner Macht fest.

"Walküre" und "Siegfried" führen die Krise der Macht Wotans vor. Mit Siegmund setzt Wotan einen kritischen Rebellen in die Welt, der bewußt gegen Gesetz und Ordnung erzogen wurde. Mit dem Inzest von Siegmund und Sieglinde geht Wotans Wunsch in Erfüllung, ein ganzes Geschlecht anarchistischer Rebellen zu züchten, das ihm zu neuer Handlungsfreiheit verhelfen soll. Aber diese Selbstauflösung des Gesetzes würde sich spätestens, wenn Siegmund den Machtring in Händen hielte, gegen Wotan selbst richten. Am Ende von Wotans Disput mit Fricka steht die Einsicht, daß mit allen Mitteln versucht werden muß, das politische System und die Regierung Wotans zu retten. Das heißt, Siegmund muß sterben. Doch Brünnhilde trägt den Virus der Freiheitsidee bereits in sich und rettet ihn, auf dem Walkürenfelsen durch Feuer und Schlaf isoliert, in die Zukunft. Siegfried, das Kind der Wälsungen, soll als Held der zweiten Generation den Menschen endlich Freiheit und Liebe bringen. Das ist Brünnhildes Traum. Doch Brün-hildes Träume und Wotans Gedanken meinen nicht dasselbe.

Siegfried ist, sobald er lebt, für Wotan das willkommene Objekt, seine taktischen Experimente zur Machterhaltung fortzusetzen. Im Gegensatz zu Siegmund, der zu viel von der Welt wußte, wird Siegfried von vorneherein von der Welt isoliert. Wotan setzt diesmal auf die Unwissenheit seines Heldens, der den Ring zwar erobern kann, aber ihn ohne Wotans Hilfe nicht zu nutzen weiss. Nicht als Gott, sondern in der Tarnung des Wanderers setzt Wotan seine machtpolitischen Experimente fort. Er manipuliert Mime, Alberich und Siegfried, die letztendlich nichts anderes sind als die Opfer Wotans. Nach Siegfrieds Sieg über Fafner gerät Wotans Gespräch mit Erda ("Siegfried", III) zur Proklamation der Zukunft. Erda bestreitet ihm das Recht, den Gesetzesspeer und damit die Macht weiter in seinen Händen halten zu dürfen. Wotan setzt seine Hoffnung dagegen, den Speer an Siegfried zu vererben. Speer, Schwert und Ring, die Insignien der Weltmacht, wären dann in der Hand eines freien Helden vereint, der für politisches Handeln aber jederzeit auf Wotans Wissen angewiesen wäre. Chéreau belädt Wotan immer mehr mit faschistoiden Zügen und somit mit der äußersten Schuld politischer Verirrung.

Siegfried ist in Chéreaus Inszenierung weder der sonnige Held, noch der dumpfe Schlagetot. Er ist eher verbittert und deshalb manchmal grausam. Innerlich scheint er zu fühlen, daß die ihn umgebende Wirklichkeit synthetisch ist, daß er Opfer einer großen Manipulation ist. Seine Freiheit ist nur eine scheinbare Freiheit des im Schutzpark der Naivität Aufgewachsenen. Alles, was sich ereignet, ist von Wotan vorherbestimmt und herbeigeführt. Wenn Siegfried in die Welt der Gibichungen kommt, zeigt sich sofort, daß er, der in der Retorte von Wotans Schutzpark aufwuchs, nie ein gesell-schaftskritisches Abwehrsystem aufbauen konnte. Nun wird er von Hagen und Gunter für deren finstere Pläne ausgenutzt. Wer im Schutzpark der Naivität aufwuchs stirbt an der Wirklichkeit. Erst im Augenblick seines Todes vermag er die Bruchstücke seines Lebens zu einem Ganzen zusammenfügen. Chéreau inszeniert diesen Augenblick nicht als heroische Erzählung, sondern als eine langwierige und mühselige Strapaze des sich Erinnerns. Mit ihm geht auch Brünnhildes Traum von der schrankenlosen, ideellen Liebe zugrunde. Brünnhildes Irrtum war es, die Liebe zur Politik machen zu wollen. Durch ihren unschuldigen Gebrauch des Machtrings als persönliches Liebespfand wollte sie die Idee der Freiheit retten. Doch nach Siegfrieds Tod erkennt sie, daß jede Art von Machtpolitik der Liebe entgegensteht und unweigerlich zur Katastrophe führt. Sie gibt deshalb den Rheintöchtern den Ring zurück und begeht Selbstmord. Im anschließenden Weltbrand verbrennt auch Walhall, in das sich Wotan lange zuvor mit den Bruchstücken seines zerschlagenen Gesetzesspeeres und der damit verbundenen Erkenntnis, die Katastrophe nicht mehr aufhalten zu können, zurückgezogen hat.

Im Schlußbild der Tetralogie bleiben ratlose Menschen zurück, die aus dem Spiel dieser modernen Mythologie heraustreten in die Wirklichkeit und sich dem Publikum mit fragendem Blick zuwenden. Die Lösung bleibt aus. Die Lösung, so Chéreau, wäre unsere eigene Antwort auf unsere eigene Frage: Wie soll es weitergehen?

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(65) Vgl.: (11,69) und (20,429.) (zurück)