Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

3.3 Der "Ring" als eine Mythologie unserer Zeit

Obwohl die Bühnenbilder und die Kostüme als überdeutliche Zeichen für das 19. Jahrhundert dienen, obwohl das szenische System also primär am 19. Jahrhundert orientiert zu sein scheint, behalten die Bilder einen guten Rest von Undurchdringlichkeit, Unaufklärbarkeit und Irritation, den Reinhard Baumgart treffend beschreibt:

Die Bilder versorgen, beruhigen den Zuschauer mit keinerlei verbindlichen Orts- und Zeitangaben, ohne ihn aber in jenes Licht- und Kulissen-Nirwana zu entführen, das in Operhäusern als mythisch gilt. Zu viele scharfe, in jedem Detail übergenaue, datierbare Realität wird da hergezeigt. (57)

Baumgart betont drei Wirkungen des szenischen Systems, die im Prinzip widersprüchlich erscheinen. Chéreaus "Ring"-Bilder sind a) überscharf realistisch, dabei b) unverbindlich in Zeit- und Ortsangabe, obwohl sie sich c) nicht die üblichen Bühnenbild- und Kostümbildstilistiken, (das Licht- und Kulissen-Nirwana) zu eigen machen, das zeitlos-mythisch wirken soll, weil es nicht historisch fixierbar ist. Sowohl Peduzzi, als auch Schmidt machen keinen Hehl daraus, daß ihre Arbeiten sich zitierend unzähliger Quellen aus dem 19. Jahrhundert bedienen.

Aber diese Anleihen im 19. Jahrhundert sind lediglich Ausgangspunkte, um sich tastend auch in die Zeit davor und danach zu bewegen; die Barockmäntel der Götter, das zeitlose und lediglich Ideen verkörpernde Gewand Brünnhildes, die zeitgenössische Gesellschaftskleidung der Gibichungen und der Anzug Hagens sind Belege dafür. Und in den Bühnenbildern wird gleichermaßen auf die Architektur der Antike zurückgegriffen, wie in der Verwendung von Sichtbeton auf die Gegenwart vorausgedeutet. Vor allen Dingen lassen sich die Elemente des szenischen Systems, trotz Detailtreue und historisch genauer Anspielungen, nicht mit letzter Sicherheit als dem 19. Jahrhundert zugehörig identifizieren. Dazu trägt insbesondere die Selbstverständlichkeit bei, mit der auf der Bühne scheinbar anachronistische Zeichen und Requisiten kombiniert werden. Speere und Schwerter neben Karabinern und zeitgenössischen Anzügen, Bauwerke aus Beton neben naturnahen Schauplätzen.

Alle Elemente des szenischen Systems wirken wie selbstverständlich und erst auf den zweiten Blick enthüllen sie die Technik, mit der sie aufgebaut wurden, nämlich die Technik der Collage. So wirken etwa die Bühnenbilder wie Bauwerke einer genau definierbaren Epoche, sind es aber nicht. Peduzzis Bauten könnten ebenso gut später oder früher errichtet worden sein. Es besteht zusätzlich die Möglichkeit, diese Bauwerke nur als Visionen anzuerkennen, als Bauwerke, die in einem imaginären Stil zusammengefügt wurden. Es sind Theaterbauten, die bloß zufällige Ähnlichkeiten mit Bauten besitzen, die real denkbar wären.

Das, was Chéreau, Peduzzi und Schmidt als 19. Jahrhundert auf die Bühne stellen, ist nicht einmal ansatzweise so konkret und realistisch wie in anderen Inszenierungen, deren Regisseure Wagners "Ring" ebenfalls in die Zeit seiner Entstehung versetzten. Walhall war zum Beispiel in Leipzig eine Nachbildung des Washingtoner Kapitols und die Halle der Gibichungen eine Nachbildung der Reichskanzlei. Chéreau dagegen versuchte, von Anfang an gleichermaßen konkret und abstrakt zu sein.

Man kann Walhall als das Kapitol von Washington zeigen, als die Oper von Paris, Wall-Street, Bayreuther Festspielhaus oder als eines der Schlösser von Ludwig II. Walhall ist nichts von alledem, selbst wenn es gleichzeitig das alles sein könnte. Sich ein Walhall vorzustellen, das nicht existiert, es selbst zu entwerfen und aufzubauen, ist schwieriger, aber auch richtiger. (20,135)

Allgemeiner formuliert heißt das:

Wir versuchten, eine Allegorie aufzubauen, mehr visionär zu sein, als schulmeisterlich Bilder vorzuführen. (ebd.)

Die Begriffe der Allegorie und der Vision stehen wiederum im Zusammenhang mit einem möglichen Verständnis von Mythologie, das Chéreau seiner Inszenierung unterlegt. Viele Interpreten des "Ring" sprechen im Zusammenhang mit diesem Werk häufig von Symbolen und Symbolkonstruktionen, die Wagners Aussagen transportieren sollen; Chéreau dagegen sagt:

Ich habe schon immer den Ausdruck "Allegorie" [...] dem des "Symbol" vorgezogen, und Wagner meinte vermutlich das gleiche, wenn er vom "szenischen Gleichnis" spricht. (20,131)

Chéreau bezieht sich hierbei vor allem auf mittelalterliche Allegorien und auf die szenischen Allegorien der Barockzeit, besonders auf die spanischen 'autos sacramentales'. In diesen Formen der Allegorie werden Ideen konkret in Handlungen und einzelne Personen umgesetzt. So ist für Chéreau das Stauwehr auf der Bühne einerseits ein konkretes Stauwehr, aber gleichzeitig auch eine "bedrohliche Konstruktion, eine Theatermaschinerie und eine allegorische Gestalt dessen, was heute Energie erzeugt" (20,132).

Alle Bühnenbilder und die in ihnen vollzogenen szenischen Aktionen müssen als szenische Gleichnisse interpretiert werden, denn es geht Chéreau nicht darum, ein historisch exaktes Abbild des 19. Jahrhunderts aufzubauen. Allegorie, Vision und Phantasmagorie sind Stilmittel, die ihn dabei in die Nähe des Mythos und der Mythologie führen. Chéreau versetzt Wagners "Ring" zwar in die Geschichte des bürgerlichen Jahrhunderts, aus dem er auftauchte, aber die mythologische Qualität von Wagners "Ring"-Text wird damit nicht vollständig ausgelöscht.

Als Fremdes, ungefälliges, vieldeutiges Irgendwann und Nirgendwo begann sie vor unseren Augen neu zu entstehen. (Baumgart) (58)

Hat nun dieses fremdartige Irgendwann und Nirgendwo bestehend aus allegorischen Anspielungen und Verweisen auf das 19. Jahrhundert wirklich Gemeinsamkeiten mit Wagners Mythologie? In der Kritik zum "Ring" wurde Chéreau stets der Vorwurf gemacht, daß er durch Verbürgerlichung der Szene, durch die deutlich sichtbaren Bezüge zum 19. Jahrhundert, dem "Ring"-Mythos den Schauer des Mythischen, die Dignität des Erhabenen genommen habe.

Es ist sicherlich korrekt, wenn man sagt, daß einem Mythos durch zeitliche und gesellschaftliche Konkretisierungen seine archaische Kraft genommen, daß er reduziert wird. Aber liefert Wagner denn in seiner Tetralogie, wie in der zuständigen Literatur allenthalben behauptet wird, überhaupt einen Mythos? Peter Wapnewski schlägt vor, diese Frage nicht mittels einer ausgedehnten und umfassenden religionsgeschichtlichen Untersuchung oder mittels eines philologisch-philosophischen Diskurses zu klären. Denn man erhält bereits eine vorläufige Antwort auf diese Frage, so Wapnewski, wenn man die Verfechter des Mythischen im "Ring" auffordert, den Mythos Wagners einfach nachzuerzählen. Die Verlegenheit, in die man dabei gerät, verdeutlicht Wapnewski. Der "Ring" erzählt uns:

Daß der freieste Wille sich verstrickt; daß er im Bestreben, sich wiederum zu befreien, noch tiefer verstrickt wird; daß Gesetz und Ordnung nicht nur notwendige, sondern auch knebelnde Kräfte sind; daß der geballte Wille nicht schützt vor Betrug und Betrügern; daß die Götter, um Götter zu bleiben, sich den Menschen erschaffen und ihn belasten müssen mit Aufträgen, die sie nicht ausführen können, wollen sie Götter bleiben; daß schließlich die gewollte Selbstaufhebung Raum schaffen kann für einen neuen Anfang. (46,263)

Wapnewskis bescheidener Versuch, die einzelnen Handlungsstränge der "Ring"-Fabel zu bestimmen und aufzulisten, ist in seinem Ergebnis gewiß richtig, aber er ist zugleich unvollständig, er ist sehr allgemein und abstrakt. Mythen sind zwar ihrem Wesen nach von allgemeiner Bedeutung, aber die Stoffe sind in der Regel klar organisiert und in ihrer Reduktion auf wenige oder nur einen Handlungsstrang leicht nachzuerzählen. Denn, so Wapnewski:

Die Geschehnisse um Tantalus oder Ödipus, Jason und Herakles und Niobe mögen gelegentlich schwer deutbare Geschichten sein, als "Geschichten" sind sie einfach. Die Geschehnisse im "Ring" hingegen sperren sich der schlichten Nacherzählung, eben weil sie nicht schlicht sind. (ebd.)

Die lange Entstehungsgeschichte des "Ring", die sich über mehr als ein Vierteljahrhundert hinzog, hat sicher ihren Teil zu dieser sperrigen Komplexität, zu den Brüchen, Widersprüchen und Wiederholungen in Wagners Werk beigetragen. Eine entscheidendere Rolle für die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man die "Ring"-Fabel in einfachen Sätzen zusammenzufassen möchte, spielt jedoch Wagners besondere Technik, mit der er sich der nordischen Sagen und Mythen bedient. Fest steht, daß Wagner seinen "Ring" in unmittelbarem Zusammenhang mit der Revolution von 1848 konzipiert und niedergeschrieben hat.

Wagner geht es in seinem Drama in erster Linie darum, einem bestimmten historischen und gesellschaftlichen Bewußtsein einen Ausdruck zu geben. Um nun eine aktuelle, also zeitabhängige und direkte Gestaltung zu umgehen, wendet Wagner den Kunstgriff der Mythisierung an. Daß heißt, er entleiht sich der Literatur alte Mythen und stellt daraus eine neue Geschichte zusammen. Diese Geschichte wiederum wird getragen vom historischen Bewußtsein des Frühkapitalismus und der gescheiterten Revolution. Wagner liefert eine zeitbezogene Fabel in der Gestalt und mit den Gestalten der Mythologie ab. Die soll seiner Epoche als kulturelles Fundament dienen. (59) Die von Wagner künstlich geschaffene Mythologie vereinigt direkte Bezüge auf die gesellschaftlichen Zustände der Entstehungszeit des Werkes mit einer auf Zeitlosigkeit abhebenden Form. Gleichzeitig ist sie Keimform für historisches und politisches Bewußtsein.

Mythen haben stets, auch wenn sie überzeitlich wirken und nicht unmittelbar Bezug auf bestimmte historische Ereignisse nehmen, das Antlitz ihrer Entstehungszeit getragen. Solchermaßen sind sie nie völlig zeitunabhängig in den Vorgängen und Ereignissen, die sie uns schildern. Wagner benutzt die germanische Mythologie, um "emblematische Bilder zu schaffen, in denen sich die Menschen wiedererkennen und ihre Todesängste, ihr Schicksal und ihre Furcht daraus ablesen können" (Chéreau. 20,132). Das, so Chéreau weiter, ist auch die Aufgabe des Regisseurs auf dem Theater. Deshalb darf sich ein Regisseur des "Ring" dem historischen und politischen Bewußtsein dieses Werkes nicht entziehen, indem er versucht, Zeitlosigkeit im Sinne eines pseudo-mythischen Licht- und Kulissennirwanas herzustellen. Chéreau faßt das in einer einfachen und treffenden Formulierung zusammen:

Eine Mythologie zu wollen, die nicht auf eine bestimmte Zeit bezogen, das ist, als wolle man den Rahmen ohne das Bild. (38,430)

Das Erzählen in Form einer Mythologie ist für Chéreau zunächst nicht mehr als ein formales Stilmittel, ein Rahmen, mit dem ein im Inhalt ausgebreitetes Gemälde begrenzt, erfahrbar und nachvollziehbar gemacht wird.

Der Mythos ist in diesem Fall eine universelle Sprache, die es uns ermöglicht, die Dichte und Tiefe dessen zu erfassen und zu begreifen, was Wagner mit seinem Text ausdrücken wollte. (Chéreau. 38,428)

Wagner bindet in die universelle Sprache des Mythos, die im wesentlichen aus dem Ideengerüst der Edda besteht und so auf den generellen Ursprung der indo-germanischen Fabeln schlechthin führt, Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ein. Mythos, Märchen, deutsche Philosophie und sozial-romantische Utopien vermischen sich. Um das freizulegen, was in diesem Werk praktische Bedeutung für unsere Zeit hat, entwirft auch Chéreau ein mythologisches System. Für ihn kann der "Ring" nur eine Mythologie unserer Epoche sein.

Für uns gibt es heute eine Mythologie des 19. Jahrhunderts. Sie ist die Vergangenheit unserer Industriegesellschaft, die Kindheit unserer Welt in ihren ersten Bewegungen. Es gibt eine Sage der industriellen Welt. (20,134)

Den Menschen des Jahres 1976 erzählt der "Ring" die Geschichte der Entstehung unserer Gesellschaft; das ist die Geschichte des Frühkapitalismus. Was Wagner seinerzeit noch in germanischen Mythen verstecken mußte, um sich mitteilen zu können, das kann Chéreau heute offen als Mythologie des 19. Jahrhunderts zeigen.

Der "Ring" erzählt uns die Geschichte derjenigen Epoche, aus der wir hervorgegangen sind. "Das 19. Jahrhundert ist von jetzt ab unsere Mythologie, es ist unsere Vergangenheit, beinhaltet unsere Träume und Ängste" (Chéreau. 38,430). Zu keiner Zeit hatten Mythen eine andere Funktion, als daß sie der Überlieferung eines Volkes von seinen Vorstellungen über die Entstehung der Welt und ihrer Götter dienten. Chéreau macht nichts anderes, wenn er das szenische System seiner "Ring"-Inszenierung als eine Vision des 19. Jahrhundert und noch weiter zurückliegender Zeiten gestaltet. Eine Vision, die aber auch unmittelbar bis in unsere Gegenwart hineinragt.

Wichtig bleibt, daß das was Chéreau als Mythologie des 19. Jahrhunderts auf die Bühne stellt, primär der formalen Gestaltung dient, genau wie Wagners Rekurs auf die Mythen der Edda ein formaler Kunstgriff war. Diese Feststellung führt zu der Frage, was im "Ring" eigentlich erzählt wird, welche immer noch aktuelle Botschaft sich im Gewand der Mythen versteckt?

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(57) Baumgart, "Vierzehn Stunden durch Wagners Herz und Hirn"; a.a.O. (zurück)

(58) ebd. (zurück)

(59) Auch der Nibelungenmythos, wie er uns in der heutigen Form vorliegt, entstand im Mittelalter zu einer Zeit, in der die politischen Entwicklungen drohten, in Krieg, Gewalt und Spaltung des Reiches zu enden. Das "Nibelungenlied" sollte diese Gefahren aufzeigen und vor ihnen warnen; es lag also ein sehr konkreter und zeitabhängigen Anlaß für die Niederschrift des "Nibelungenliedes" vor. (zurück)