Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

1.4 Der "Ring" und die Idee vom Gesamtkunstwerk

1.4.1 Mythismus und Esoterismus

Odo Marquard sah den Ursprung des Gesamtkunstwerkes im Identitätssystem Schellings. Aus der Anwendung der Schellingkritik Hegels lassen sich gegen das Gesamtkunstwerk Einwände formulieren, die auch im Hinblick auf Wagners "Ring" ihre Berechtigung haben. Marquard nennt zwei "prekäre Kompensationen": einen "latenten Esoterismus" und einen "manifesten Mythismus". Beide sind Resultat der sich im Gesamtkunstwerk vollziehenden überstarken "Ermächtigung der Illusion" (36,48). Kunst und Wirklichkeit verlieren in der beabsichtigten Gleichsetzung im Gesamtkunstwerk ihre notwendigen Differenzen, und dieser Differenzverlust wird durch die Flucht ins Esoterische kompensiert. Des weiteren findet im Gesamtkunstwerk im Namen des ganzheitlichen Systems eine Verdrängung von Geschichte statt. Diese Verdrängung von geschichtlichem Bewußtsein steigert sich zum Mythismus.

Die Entwicklung des Gesamtkunstwerkes wurde zu allen Zeiten, so Marquard, "in all seinen Gestalten durch die Tendenz zum Mythos - zum neuen Mythos - geprägt" (36,48). In der Verbindung beider Phänomene liegt das Prekäre. Wagners Entwurf des Gesamtkunstwerkes nimmt "die Kraft aller Künste zusammen, um selber die Wirklichkeit zu werden: als Artistenversion eines neomythisch religiösen Kults" (36,45). Es begann 1848 in der Revolution mit dem Aufbegehren gegen soziale Mißstände und es endete, nach der Zwischenstufe einer Revolution der Künste, im neuen Mythos, der die "Dignität der Wirklichkeit" (36,44) einer noch nicht wirklich gewordenen Gesellschaft besitzen möchte. "Die revolutionäre Naherwartung sucht nach ihrer Enttäuschung Trost im Gesamtkunstwerk. Dort soll zumindest der Egoismus der Künste durch ihren Kommunismus besiegt werden" (Marquard. 36,45).

Wagners Idee des Gesamtkunstwerks ist in der Form, in der sie sich im "Ring" äußert, an der Idee des Identitätssystem gemessen in hohem Maße einschränkend und einseitig. Am Ende der Kette von Wagners Bemühungen um das Gesamtkunstwerk der Zukunft steht der Mythos von einem Gott, "dessen Ich es mit seinem Es so schwer hat, daß ihm der - dabei autonom werdende - Mensch bei der Erlösung helfen muß" (Marquard. 36,45). Wagner kreiert einen Mythos vom "traurigen Gott" (25) und das Gesamtkunstwerk wird zum Gottesdienst dieses endsüchtigen Gottes. Wagner selbst spricht von der "lebendig dargestellten Religion" (GS III,63), vom "Kult der neuen Religion" (GS III,123) und der "Religion der Zukunft" (GS III,63).

Die prekären Kompensationen, von denen Marquard im Anschluß an Hegels Schellingkritik spricht, finden sich also auch bei Wagner; Flucht in den Mythismus, weil Geschichte verdrängt wird, und Hang zum Esoterismus als Folge der dem Gesamtkunstwerk immanenten Tendenz, Differenzen von Kunst und Leben nicht wahren zu wollen. Wie sehr Wagners Kunstauffassung gerade von der Flucht ins Esoterische bestimmt ist, soll eine Bemerkung von Martin Gregor-Dellin noch deutlicher machen:

Wir haben es in Wagners Kunstschriften der Jahre 1849 bis 1851 mit einem vollkommenen theoretischen System zu tun, das in sich schlüssig und stimmig erscheint und nur einen einzigen Nachteil hat: es ist eine verkappte Religion. (27,339)

Der Heilscharakter dieser religionsähnlichen Theorie äußert sich am deutlichsten in der engen Verflechtung des Einzelnen mit dem Ganzen. Die reicht bis zur vollkommenen Verwechslung und Austauschbarkeit von kunsttheoretischen und gesellschaftsutopischen Konzepten. Auch Wagners sozialrevolutio-närer Impetus bekommt mehr und mehr Züge einer Privat-revolution des Geistes. Der zentrale Begriff in seinem gesamten Werk wird der der Erlösung; die Erlösung der Kunst, die Erlösung des einzelnen Menschen und die Erlösung der Gesamtgemeinschaft. Wagner selbst wird, polemisch formuliert, zum Propheten der Erlösung. Hier liegt mit Sicherheit die Wurzel des bis zur Sektenähnlichkeit gesteigerten Wagnerismus. Die geschilderten Einwände findet letztlich in der Idee der Festspiele ihre vollendetste Ausprägung.

Die Festspiele waren mehr als Wagners Versuch, den überkommenen Methoden des Theaters seiner Zeit zu entfliehen. Die Bayreuther Festspiele bedeuten für den verkappten Religionscharakter und das latent Esoterische in der Gesamtkunstwerkskonzeption eine Realisation im Sinne religiöser Surrogate: Gottesdienstersatz, Pilgerfahrt und, im Falle des "Parsifal", von Wagner selbst so benannt, Weihefest. Hans Mayer merkt an, daß Wagner stets auf die Begründung einer Nachfolge aus war. Das unterscheidet den Wagnerianer deutlich etwa vom Goetheaner.

Der Vergleich Wagners und seiner Nachfolger mit Goethe und dessen Nachfolge drängt sich deshalb auf, weil die Formeln "Goethe in Weimar" und "Wagner in Bayreuth" - als Ausdruck eines Prozesses der Verknüpfung von Leben und künstlerischer Tätigkeit - Parallelitäten aufweisen.

Allein Goethe hat keine Nachfolge begründet oder auch nur begründen wollen. [...] Der Goetheaner ist daher seinerseits inkommensurabel: er verharrt auf der eigenen und unverwechselbaren Subjektivität. Der Wagnerianer jedoch integriert sich in aller Bewußtheit einer Gemeinschaft mit Ordenscharakter. Es bedurfte keiner Suche voll bleichen Eifers: der Gral hatte sich auf dem fränkischen Hügelgebirge niedergelassen. Bayreuth war von nun an Gralsgebiet. (Mayer. 34,22f.)

1.4.2 Zusammenfassung in Form eines vorläufigen Definitionsversuches

In erster Linie sind Wagners Kunstschriften - und das Resultat deren Umsetzung im "Ring des Nibelungen" - eine Reaktion auf die gescheiterte Revolution und den mit ihr verbundenen Reformideen. Wagners Gesamtkunstwerkskonzept ist, so beschreibt es Odo Marquard, eine Flucht in die Kunst, nachdem die revolutionäre Naherwartung entäuscht wurde. Wenn schon das Ideal der Gesellschaft der Zukunft, wie es in "Die Kunst und die Revolution" entworfen wurde, nicht zu verwirklichen war, so sollten zumindest die Künste ihre egoistische Vereinzelung aufgeben und sich im Kunstwerk der Zukunft einem gemeinsamen Ziel unterwerfen. Dieses Kunstwerk der Zukunft ist orientiert am Gesamtkunstwerk der griechischen Tragödie und ihrem enormen Öffentlichkeitscharakter. Wagner nähert seine Musikdramen diesem Ideal an. Der "Ring", "keine Repertoirestücke nach dem modernen Theaterbegriff" (GS IV,343), wird in seiner formalen Gestaltung und seiner Aufführung im Festspielhaus zumindest mit dem Anschein des 'Gesamtkunstwerk der Zukunft' und der 'Wiedergeburt der griechischen Tragödie' versehen. Die reale Umsetzung des Gesellschaftsideals der Revolution, ursprünglich ein konstituierendes Moment der Wagnerschen Theorie, steht dabei nicht mehr zur Diskussion.

Doch lediglich für die Dauer der Aufführung ist, wenn überhaupt, die Differenz von Kunst und Leben ansatzweise aufgehoben. Diese Aufhebung erreicht Wagner durch die besondere Technik seiner Komposition, die mittels der Leitmotivik das Publikum zum integrativen Bestandteil des Werkes macht. Es kommt zu einer Kooperation mehrerer Wahrnehmungsorgane; wenn sich Wagner der Synästhesie bedient, macht er sich einen durch die Neurophysiologie akzeptierten Trick zu eigen. Die Wirkung eines Kunstwerkes auf den Betrachter ist größer, wenn mehrere Wahrnehmungen unterschiedlicher Qualität gleichzeitig verarbeitet werden müssen. Die Leitmotive transportieren zusätzlich zu den Bildern auf der Bühne und dem Text inhaltliche Querverweise. Die Leitmotive sind Topoi, "Aufrufe zu Wahrnehmungsassoziationen, [...] so etwas wie Pathosformeln, [...] die Wagner in sein Werk integriert" (Brock. 19,26). (26)

Bazon Brock erwähnt, daß ein 24-stündiges Wagnersches Musikdrama eine so starke "Annäherung zwischen Ereigniszeit des Bühnengeschehens und Erlebniszeit des Publikums" bedeuten würde, daß sich das Publikum bereits in einem "Realexperiment über Zeiterfahrung befände" (ebd.). Diese Möglichkeit wird aber von Wagner nicht in Betracht gezogen. Der "Ring" beansprucht den Zuschauer zwar an vier Abenden, bleibt aber dabei den traditionellen Aufführungs-praktiken des Theaters verbunden.

Inhaltlich muß der "Ring" als fiktive und utopische Ganzheitsvorstellung in Form einer neo-mythischen Erzählung betrachtet werden, in der viele Menschen ihren eigenen Lebenswillen und ihre Vorstellungen von der Welt repräsentiert sehen. Der "Ring" beinhaltet aber keine direkte Handlungsaufforderung oder einen rituellen Vollzug der ausgebreiteten Ganzheitsvorstellung. In Bazon Brocks Dreistufenmodell aus Gesamtkunstwerk, Totalkunst und Totalitarismus steht Wagners "Ring" auf der untersten Stufe. Somit bleibt das Gesamtkunstwerk Richard Wagners letztlich doch "kunstimmanent" und unterliegt nach wie vor dem "ästhetischen Schein" (Brock. 19,28).

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(25) Buchtitel von Peter Wapnewski. P.W., Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden. München 1982 (zurück)

(26) Aus diesem Grund wird Wagner auch häufig als Stammvater der Filmmusik bezeichnet. Filmmusik besteht durchweg aus der Addition und Integration von Pathosformeln. (zurück)