Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

1. DIE IDEE DES GESAMTKUNSTWERKES

Dies alles gibt es also: die Gesamtausgabe, den Gesamtbetriebsrat, den Gesamtdrehimpuls, die Gesamthandsgemeinschaft, die Gesamthochschule, den Gesamtkatalog, die Gesamtschuld, die Gesamtschule, die Gesamtstrafe, die Gesamtstreitkräfte, den Gesamtverband und etliches Einschlägiges mehr; und als echte Teilmenge dieses Gesamtgesamts gibt es das Gesamtkunstwerk: was ist das? (Marquard. 36,40)

1.1 Philosophische und kulturhistorische Ursprünge

Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann hat 1983 in Zürich den Versuch unternommen, in einer quantitativ umfassenden Ausstellung des Phänomens Gesamtkunstwerk Herr zu werden. "Der Hang zum Gesamtkunstwerk", so der Titel dieses Aus- stellungsprojektes, sollte aufzeigen, mit welchen Schwierigkeiten ein Definitionsversuch des Begriffes Gesamtkunstwerk verbunden ist. Harald Szeemann ging bei seiner Präsen- tation von folgender Prämisse aus.

Der Begriff Gesamtkunstwerk, von Richard Wagner erstmals für sein Kunstwollen und seine Vision der Vereinigung der Künste im "Kunstwerk der Zukunft" in seinen Zürcher Schriften verwendet, wurde theoretisch nie definiert und ist nicht nur in der Kunstliteratur zu einer beliebig verwendbaren Begriffshülse geworden. (9,16f.)

In der Tat drängt sich einem aufmerksamen Leser der Feulli- tons verschiedenster Zeitschriften und Zeitungen, einem wachsamen Betrachter von Kulturmagazinen der bundesdeutschen Fernsehanstalten unweigerlich der Eindruck auf, daß die Verwendung des Begriffes Gesamtkunstwerk eine wahrhafte Inflation erlebt. In den meisten Fällen drückt sich darin die Unsicherheit aus, bestimmten Kunstwerken nicht mehr mit einer kunsthistorisch schlüssigen Klassifizierung oder einer geradlinigen werkimmanenten Interpretation gerecht werden zu können. Zumeist handelt es sich dann auch um Kunstwerke synthetischer und synästhetischer Natur. Diese Kunstwerke verbinden und vereinigen diverse Kunstformen und -stile zu einem Kunstwerk. Der Begriff Gesamtkunstwerk wird bei der Interpretation zur entschuldigenden Floskel, zur Schublade, in die all das verbannt wird, das durch gängige Ismen nicht mehr erfaßt werden kann. Die Zürcher Ausstellung mit ihrer weitgefächerten Palette unterschiedlichster Künstler und Kunstwerke führte dem Betrachter drastisch vor, wie breit das Anwendungsgebiet des Begriffes Gesamtkunstwerk sein kann. Es zeigte sich vor allem, daß es - nicht nur im Hinblick auf Wagners "Ring" - nützlich ist, im Gesamtkunstwerk mehr als eine Synthese verschiedener Einzelkünste zu sehen. Es scheint weitaus nützlicher zu sein,

als besonderes Kennzeichen des Gesamtkunstwerkes nicht allein die multimediale Verbindung aller Künste in einem Kunstwerk gelten zu lassen, sondern vor allem auch noch eine andere Verbindung: die von Kunst und Wirklichkeit; denn zum Gesamtkunstwerk gehört die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität. (Marquard. 36,40)

Harald Szeemann sprach davon, daß es Richard Wagner war, der zum ersten Mal seine Vision der Kunst und sein Kunstwollen mit dem Begriff des Gesamtkunstwerkes in Zusammenhang brachte. Folglich soll Wagners ästhethisches System, 1848-52 in den Kunstschriften niedergelegt, im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen. Doch zuvor bedarf es einiger grundsätzlicher Überlegungen zu den philosophischen und kulturhistorischen Ursprüngen der Gesamtkunstwerkidee, auf die auch Wagner seine Konzeption des "Drama der Zukunft" aufbaut. (5)

Für Odo Marquard ist die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen Realität und Kunstwerk das entscheidende Kriterium für ein Gesamtkunstwerk, die multimediale Verbindung mehrerer Künste ist für ihn dagegen lediglich ein sekundäres Kennzeichen. Die philosophischen Wurzeln eines solchen Definitionsversuches liegen eindeutig in der Philosophie des deutschen Idealismus. Folgerichtig beginnt für Marquard die "Idee des Gesamtkunstwerkes mit dem 'ästhetischsten' System des deutschen Idealismus, dem 'Identitätssystem' von Schelling" (36,41).

Die Identitätsphilosophie Schellings kann ihm Rahmen der vorliegenden Arbeit verständlicherweise nur in den für die Idee des Gesamtkunstwerks wesentlichen Zügen wiedergegeben werden, also extrem verkürzt. Für die spätere Darstellung der Wagnerschen Theorie ist dabei entscheidend, daß Schelling als erster ein philosphisches System entwarf, welches die Wirklichkeit, in der der Mensch lebt, mit der Welt des Geistes und der ästhetischen Gebilde eng verknüpft. Schellings Ausgangspunkt ist die Gegensätzlichkeit von Natur und Geist, auf die bislang die "Emanzipationsgeschichte der Autonomie des menschlichen Ich" (36,43) als scheinbar unüberwindliche Grenze stieß. Schellings identitätsphilosophisches System hebt im Gegensatz zu seinen Vorläufern diese Grenze einfach auf, indem es Natur und Geist, Reales und Ideales als identisch erklärt. In Folge dieser Gleichsetzung kann die Endlichkeit der Emanzipationsgeschichte des menschlichen Geistes der Vergessenheit preis gegeben werden. "Vergessen werden muß, daß die Geschichte als Produkt des menschlichen Geistes anders ist als die Natur; vergessen werden muß, daß die Natur die Geschichte limitiert" (36,43). Wenn aber die Emanzipationsgeschichte ihre Endlichkeit, die in der Grenze zwischen Natur und Geist begründet ist, vergißt, dann führt das zwangsläufig - wie Marquard sagt - "zu einem schnellen Marsch in die Illusion" (36,43). Für diese Art der Illusion des Vergessens gibt es Schelling zufolge ein Organ, das für Illusionen schlechthin zuständig ist.

Die Kunst; genauer: die 'intellektuelle Anschauung', die zur 'ästhetischen' und dadurch zur 'absoluten' wird; denn jetzt - identitätssystematisch im Zeichen des Vergessens und der Illusion - kommt es darauf an, die Gesamtwirklichkeit ästhetisch anzuschauen: nicht mehr nur in Kunstwerken, sondern als Kunstwerk. Schelling erklärte die Wirklichkeit zum gesamtesten aller möglichen Gesamtkunstwerke. (36,43)

Somit ist das Identitätssystem eine "Ästethik der Gesamtwirklichkeit" (Marquard. 36,43). Daraus folgt, daß die Gesamtwirklichkeit ästhetisch parieren und sich wie ein Kunstwerk benehmen soll. Eine identitätssystematische Deutung der Gesamtwirklichkeit als Kunstwerk ist freilich riskant. Darum erwog Schelling selbst in seinen als Schlußbetrachtung der Identitätsphilosophie konzipierten Vorlesungen über die "Philosophie der Kunst" eine Zwischenlösung, die die Gefahren der völligen Ermächtigung der Illusion abmildert. Schelling zog sich - quasi zum Ersatz - auf eine separierte ästhetische Wirklichkeit zurück. Nach dem Zusammenbruch der identitätssystematischen Deutung der Gesamtwirklichkeit als Kunstwerk beginnt eine Suche "nach jenem konkreten Kunstwerk, das das Gesamte ist zumindest dadurch, daß es - wenn schon nicht die Wirklichkeit - alle Künste (sie potenzierend oder destruierend) integriert und dadurch das Kunstwerk wirklicher macht" (36,44). Schelling schreibt dazu:

Ich bemerke nur noch, daß die vollkommenste Zusammensetzung aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie und Malerei durch Tanz, selbst wieder synthetisiert die komponierteste Theatererscheinung ist, dergleichen das Drama des Altertums war, wovon uns nur eine Karikatur, die Oper, geblieben ist, die in höherem und edlerem Stil von Seiten der Poesie sowohl als der übrigen konkurrierenden Künste am ehesten zur Aufführung des alten mit Gesang verbundenen Dramas zurückführen könnte. (Schelling. Zit. n.: 36,44)

Wenn Schelling hier fordert, das Theater solle sich der vollkommenen Zusammensetzung der Künste im Drama des Altertums besinnen und diese Vollkommenheit in einer Erneuerung der Oper wiederbeleben, dann klingt das bereits wie eine Vorwegnahme der Kernaussagen von Wagners Kunstschriften. Zunächst ist für die Annäherung an die Idee des Gesamtkunstwerks aber wichtig, daß dort, wo das Identitätssystem in der Bewältigung der Gesamtwirklichkeit an sein Ende kommt und notwendig scheitert, zumindest in der Suche nach dem Gesamtkunstwerk die Trennung von Kunst und Wirklichkeit gemildert wird. Allerdings will nicht mehr die Wirklichkeit zum Kunstwerk werden, sondern die Kunst ihrerseits erhebt den Anspruch auf höchstmögliche Wirklichkkeitsnähe. Das Gesamtkunstwerk ist "gewissermaßen das in ein besonderes Kunstwerk emigrierte Identitätssystem" (36,44). Unbestritten bleibt dabei auch für Marquard:

Durchgesetzt hat das Konzept des Gesamtkunstwerks Wagner mit seinen Musikdramen, auch wenn er seinerseits das Wort "Gesamtkunstwerk" eher beiläufig gebraucht und niemals programmatisch. (36,41) (6)

Aus der geschilderten Entwicklung des Identitätssystems lassen sich im Hinblick auf die "Karriere des Gesamtkunstwerks" (36,40) drei philosophie-geschichtliche Voraussetzungen ableiten:

1.) Das Kunstwerk wird durch die Trennung vom mechanischen Artefakt emphatisch und ästhetisch. Das geschah laut Marquard im Zeitalter der ästhetischen Philosophie, das etwa um 1750 mit den ersten ästhetischen Theorien einsetzte. Ab dieser Zeit müssen Kunstwerke als Rettungsversuch der religiösen Werkgerechtigkeit verstanden werden, die durch die Reformation zerstört wurde. Die guten Werke müssen "aus dem religiösen Territorium in das ästhetische Territorium emigrieren, um Heilsrelevanz zu behalten" (36,40).

2.) Mit der ästhetischen Emphatisierung des Kunstwerks entsteht zugleich ein neuer Begriff des Gesamten. Dort, wo der "Begriff Gottes und seiner Schöpfung als Begriff für das Gesamte in Zweifel gerät" (ebd.), wird in der Konstruktion von Systemen nach der Werkgerechtigkeit auch der Begriff des Gesamten der Sphäre des Religiösen entrissen. Im Erstellen einheitlicher Systeme kann der Mensch als Realschöpfer seine Wirklichkeit gestalten, er wird Gott ähnlich. Gerade weil sich Systemkonstruktionen gegenüber der Unterscheidung von Gott und Mensch neutral verhalten, erleben sie in der Philosophie des Deutschen Idealismus ihre Hochzeit.

3.) Die dritte Voraussetzung besteht in der Fusion der beiden ersten. Das System wird zum Kunstwerk und das Kunstwerk wird zum System. In dem Moment, wo die Realschöpfer - Gott und Mensch - mit dem Gesamtsystem Schwierigkeiten haben, treten die Künstler als phantastischer Schöpfer auf. Sie definieren das Gesamte (das System) nun ästethisch als Kunstwerk und begeben sich schließlich auch konkret auf die Suche nach dem Kunstwerk, das das Gesamte ist. Dieser dritte Schritt auf dem Weg hin zum Gesamtkunstwerk geschah zuerst bei Schelling, der erklärte; "der eigentliche Sinn, mit dem diese Art der Philosophie [d.i. seine] aufgefasst werden muß, ist also der ästhetische, und eben darum ist die Kunst das wahre Organon der Philosophie" (zit. n.: 36,41).

Ging Schelling anfangs von einem System aus, das die Gesamtwirklichkeit zum gestalteten Kunstwerk erheben wollte, so steht am Ende der Entwicklung ein Rückzug des Konzepts Gesamtkunstwerk in die Kunst. Ein mögliches Gesamtkunstwerk manifestiert sich lediglich als ästhetisches System.

Bazon Brock versucht in seinem Katalogbeitrag zur Zürcher Ausstellung "Der Hang zum Gesamtkunstwerk" das Konzept Gesamtkunstwerk wieder aus der Kunst zu lösen und erneut im Zusammenhang mit der Gesamtwirklichkeit zu sehen, denn das "Konzept Gesamtkunstwerk ist nicht allein den Künstlern vorbehalten" (19,23). Der Hang zum Gesamtkunstwerk hat für Brock nicht nur philosophische und ästhetische Ursprünge, sondern auch kulturgeschichtliche. Von je her haben alle europäischen Kulturen eine unübersehbare Gemeinsamkeit. Sie werden verknüpft durch "gemeinsame Repräsentationen von Ganzheitsvorstellungen [...], wie sie vor allem die gothische Kathedrale, die Institution 'Universität' und die Idee des 'Staates' darstellen; die Einheit der Welt als Schöpfung des Christengottes, Wirkungsfeld der Natur- und Kunstgesetze und als Schöpfung des Menschen" (19,22). In dieser Suche nach Ganzheitsvorstellungen auf den Gebieten der Religion, der Kunst und der Wissenschaft, sowie der Politik liegen für Bazon Brock die Wurzeln der Gesamtkunstwerksidee. Transportiert und vermittelt werden solche Ganzheitsvorstellungen in den jeweiligen Bereichen vom Heiligen, vom wissenschaftlichen, beziehungsweise künstlerischen Genie und vom politischen Führer. Im Verlauf der gemeinsamen Geschichte der europäischen Kulturen seit dem Mittelalter hat sich gezeigt, daß die Idee von einer Ganzheitsvorstellung stets mit der Obsession verbunden war, diese Vor-stellung Wirklichkeit werden zu lassen.

Das Konzept "Gesamtkunstwerk" ist in erster Linie durch die Obsession gekennzeichnet, mit der Individuen das Bild vom Ganzen, die persönliche Verkörperung des Ganzen und die allgemeine Unterwerfung unter das Ganze zu realisieren versuchen. (19,22)

Historische Beispiele zeigen jedoch unmißverständlich, daß es unmöglich ist Heiliger, Genie und Führer in einer Person zu sein. (7) Mithin ist der Dreischritt aus Entwurf einer Ganzheitsvorstellung, Verkörperung dieser Vorstellung und Unterwerfung der Wirklichkeit unter diese Vorstellung nicht ohne Probleme zu vollziehen. Für Bazon Brock steht aber fest, daß mit der "pathetischen Geste des Dennoch" trotzdem versucht wird, "gegen alle prinzipiellen und historischen Einwände [...], den alten Traum wachzuhalten" (19,23). Und zwar wird dies nach wie vor nicht nur vom Künstler versucht, sondern auch vom Politiker oder vom Wissenschaftler.

Wir haben also von Gesamtkunstwerk-Konzeptionen sowohl in ökonomisch-politischen, wie im wissenschaftlichen als auch künstlerischen Bereich auszugehen. (19,23)

Die Konzeption einer Ganzheitsvorstellung ist zunächst nichts anderes als ein "gedankliches Konstrukt übergeordneter Zusammenhänge als bildliche oder epische Vorstellung oder als wissenschaftliches System oder als politische Utopie" (ebd.). (8) Ein Gesamtkunstwerk - nichts anderes ist eine solche Konzeption einer Ganzheitsvorstellung - wird lediglich als "fiktive Größe" (ebd.) zur Sprache gebracht. Nach wie vor verbunden mit dem Gesamtkunstwerk ist die Absicht, "diese Bilder und Gedanken über 'das Ganze' auch selbst zu verkörpern, also in die eigene Lebensrealität aufzunehmen (wie ein Heiliger das tut), und das ebenso unabdingbare Verlangen, auch andere - möglichst viele, gar alle - Menschen der einen Wahrheit zu unterwerfen" (19,24). Bazon Brock schlägt vor, die beiden letzten Entfaltungsstufen des Gesamtkunstwerks "Totalkunst" und "Totalitarismus" (ebd.) zu nennen. Damit wird der Gebrauch des Begriffs Gesamtkunstwerk unmißverständlich. In Brocks Stufenmodell aus Gesamtkunstwerk, Totalkunst und Totalitarismus wird nur die schriftlich oder bildlich fixierte Systemkonstruktion (die Vision oder Utopie) mit dem Begriff Gesamtkunstwerk versehen. In einer Zusammenfassung des Brockschen Stufenmodells zeigt sich, daß der Träger des Anspruchs auf Darstellung einer Ganzheitsvorstellung jeweils ein anderer ist.

Für das GESAMTKUNSTWERK ist die fixierte Vision, Utopie oder Systemkonstruktion - also das GESTALTETE WERK - der Träger des Anspruchs auf Darstellung eines Ganzen. Für die TOTALKUNST ist das realexperimentierende SUBJEKT der Träger des Anspruchs. Der TOTALITARISMUS faßt in betonter Weise LEBEN selbst (die Massen) als Träger des Ganzheitsanspruchs auf, weil ja im Leben der Massen die Utopien verwirklicht werden sollen. (19,30)

Bazon Brock betont ausdrücklich, daß das Gesamtkunstwerk nur eine Fragestellung hat, nämlich: "Was ist das Ganze?" (19,24). Das "Zur-Sprache-Bringen des Ganzen" (ebd.) als fiktives, bildliches Konstrukt ist eine "mythische Erzählung" (ebd.). Das Gesamtkunstwerk muß, um Wahrheitsanspruch erheben zu können - und Wahrheitsanspruch muß es erheben, wenn es das Ganze zu erfassen behauptet, das Gesamtkunstwerk muß also seine Aussagen über den Zusammenhang des 'Ganzen' deutlich vom historischen Urheber trennen. Urheberlose Erzählungen aber sind nichts anderes als Mythen, zumindest sind sie mythenähnlich. (9) Der Totalitarismus geht von der rhetorischen Frage "Wollt ihr das Ganze?" (19,24) aus, aber die Antwort steht bereits fest und kann "nur noch rituell bestätigt werden: der Ritus ist die vollziehende Unterwerfung unter den Mythos als anonyme Repräsentanz des übergeordneten Ganzen" (ebd.).

Unter diesem Gesichtspunkt kann zum Beispiel auch das Dritte Reich als pervertierte Form eines Gesamtkunstwerkes verstanden werden. Gleichzeitig zeigt sich, daß das epische oder bildliche Fixieren eines Gesamtkunstwerkes allein neutral ist, also weder negativ, noch positiv. Zwischen Gesamtkunstwerk und Totalitarismus steht die Totalkunst, die fragt: "Was soll das Ganze? Und antwortet: Es soll Kultur ermöglichen, ohne die Verbindlichkeit durch totalitäre Gewalt zu erzwingen" (19,24).

In der Totalkunst ist weder der Ritus nur ein praktischer Vollzug des Mythos (wie im Totalitarismus), noch der Mythos ein verfestigtes Bild eines Ritus, den es nur noch zu vollziehen gilt (wie im Gesamtkunstwerk). In der Totalkunst radikalisiert der Schöpfer einer Ganzheitsvorstellung das Verhältnis von Fiktion und Realität, indem er sich selbst als experimentierendes Subjekt in dieses Spannungsverhältnis begibt. Brock nennt das "Symptomverordnung" (19,28). Der Künstler, der das macht, unterwirft nicht andere, sondern nur sich selbst der Rückvermittelung von Mythen auf den eigenen Lebenszusammenhang. (10)

Für Bazon Brock ist - wie zuvor schon für Odo Marquard - das 19. Jahrhundert dasjenige Zeitalter, in dem die Suche nach Gesamtheitsvorstellungen - und damit das bildliche und epische Fixieren von Gesamtkunstwerken - ihren Höhepunkt erlebt. Richard Wagner ist einer dieser Künstler, die in eben dieser Zeit das Gesamtkunstwerk (als typische Fiktion eines Ganzheit-Systems) in den Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens stellten. (11)

Um sich dem Phänomen Gesamtkunstwerk auch im Werk Richard Wagners weiter anzunähern, sollen in den folgenden Kapiteln die "Zürcher Kunstschriften" in ihren wesentlichen Kernaussagen referiert werden. Es wird sinnvoll sein, nach der Darstellung der Wagnerschen Theorie und vor der Untersuchung der "Ring"-Inszenierung von Patrice Chéreau auf die bis hierher beschriebenen philosophischen und kulturgeschichtlichen Ursprünge der Gesamtkunstwerksidee nochmals zurückzugreifen.

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(5) Hierzu dienen mir zwei Aufsätze aus dem Katalog der Züricher Ausstellung:
I. "Gesamtkunstwerk und Identitätssystem" von Odo Marquard. (9,40-49)
II. "Der Hang zum Gesamtkunstwerk" von Bazon Brock. (9,22-39) (zurück)

(6) Wagner, das wird im Verlauf von Abschnitt 1.2 noch einsichtig, verwendet den Begriff Gesamtkunstwerk meist eng bezogen auf die Konzeption der griechischen Tragödie (z.B.: GS III,12; 29; 159). Dabei nähert er sich - wie bereits erwähnt - den Vorstellung Schellings vom Gesamtkunstwerk, das aus der Restauration des Dramas des Altertums erstehen kann. (zurück)

(7) Brock führt beispielhaft einige Personen auf, denen diese Einheit nicht gelang. Suger von Denis entwarf die gotische Kathedrale als Bild des himmlischen Jerusalems und brachte sich als Berater politische Führer ins Gespräch, wurde aber kein Heiliger wie etwa Bernard von Clairvaux, der seinerseits keine zeitgemäßen Repräsentationen der Einheit von Gottesschöpfung und Menschenwerk entwickelte. Michelangelo entwarf als Künstler in seinen Gemälden gewaltige Ganzheitsvorstellungen, in die er seine Person als Schöpfer unmittelbar integrierte, war aber kein Führer, der andere unter seine Vorstellungen unterwerfen wollte. Ludwig XIV. war zwar in Person und Rolle die Verkörperung der Unterwerfung des Einzelnen unter eine Idee vom Staat, entwarf aber keineswegs neue Vorstellungen von übergeordneten Zusammenhängen - weder philosophisch-systematisch, noch künstlerisch-bildlich. Wird die Einheit von "Denken, Wollen und Handeln" trotz fehlender Voraussetzungen in den einzelnen Schritten versucht, wird das Ergebnis totalitär: Hitler, Robespierre und Cola di Rienzi haben dies gezeigt. (vgl. 19,23) (zurück)

(8) Im Bereich der Naturwissenschaft sind zum Beispiel die Quanten- und die Relativitätstheorie solche Versuche der systematischen Erfassung der Gesamtwirklichkeit. Es sind gedankliche Konstruktionen, die fiktiv sind, aber das uns umgebende physikalische Ganze zureichend und widerspruchslos beschreiben, ohne daß feststeht, ob die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Natur tatsächlich so funktionieren. (zurück)

(9) In diesem Zusammenhang weist Brock ebenfalls darauf hin, daß ein Gesamtkunstwerk nicht zwingend als additive Verknüpfung verschiedener Medien der Vermittlung zu betrachten ist, sondern sehr wohl auch eine monomediale Darstellung - eine Malerei, ein Film etc. - Gesamtkunstwerk sein kann, insofern es den Anspruch erhebt, eine Ganzheitsvorstellung zu transportieren. (zurück)

(10) "Derartige Realexperimente sind offensichtlich die bevorzugte Form, in der moderne Künstler die Vermittlung zwischen Spekulation über das Ganze und faktischer Unterwerfung unter das Ganze vorzunehmen suchen" (Brock. (19,29). Brock nennt als einen Künstler, der dies konsequent versucht hat, Joseph Beuys. Um genauer auf die Klassifizierung Joseph Beuys' als Totalkünstler einzugehen, fehlt im Rahmen dieser Arbeit leider der entsprechende Raum. (zurück)

(11) Auch Harald Szeemann legt bei seiner Ausstellung in Zürich das Jahr 1800 als historischen Ausgangspunkt für den "Hang zum Gesamtkunstwerk" fest. Gleichzeitig verdeutlicht der Untertitel "Europäische Utopien seit 1800", daß es sich bei dem Phänomen Gesamtkunstwerk, wie von Brock postuliert, um eine gesamteuröpäische Erscheinung handelt. (zurück)

 

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