Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

1.3 Stichworte zur "Ring"-Genese

Wagners theoretische Schriften, im besonderen "Oper und Drama", ausschließlich auf die Konzeption des "Ring" zu beziehen, wäre falsch. Wagner hat bereits während der Niederschrift von "Oper und Drama" eine weitere Schrift angekündigt, die unmittelbar mit der letzteren zusammenhängt: "Eine Mitteilung an meine Freunde" (GS IV). Sie wurde als umfangreiches, erklärendes Vorwort zur Herausgabe der Dichtungen seiner drei romantischen Opern "Der fliegende Holländer", "Tannhäuser" und "Lohengrin" (20) konzipiert und diente nicht zuletzt dazu, diese Opern rückwirkend in den Zusammenhang mit seiner Dramenkonzeption in "Oper und Drama" zu stellen. Des weiteren ging es Wagner darum, der seiner Auffassung nach entstellenden Aufführungspraxis seiner Zeit entgegen zu wirken. (21)

Es finden sich in der "Mitteilung" umfangreiche Passagen, die theoretische Postulate aus "Oper und Drama" in den genannten Opern bereits als verwirklicht sehen. Zum anderen muß berücksichtigt werden, daß mit dem Dramenentwurf "Siegfrieds Tod", der 1848 in Dresden niedergeschrieben wurde, die gesamte Ringdichtung im Keim schon angelegt war. Mit "Oper und Drama" in Verbindung stehen freilich die umfangreichen Umarbeitungen und Erweiterungen der Dichtung. Die Komposition der langen, epischen Rückverweise in Erzählungen in "Siegfrieds Tod" hätten Wagner beträchtliche Schwierigkeiten bereitet, weil das Prinzip der Dramatisierung durch die Musik nicht angewendet werden konnte. Die 'Vergegenwärtigung' von 'Erinnerung' und 'Ahnung' als dramatische Verdeutlichung in den musikalischen Motiven führte schließlich zur Erweiterung zur Tetralogie. (22)

Was sich zunächst wie eine Bestätigung der Theorie des musikalischen Dramas anhört, erfährt allerdings im Nachhinein von Wagner selbst eine deutliche Einschränkung; seine Musikdramen seien letzlich gar keine, weil stets der Musik als bestimmenden und vorherrschenden Ausdrucksmittel Vorrang eingeräumt worden sei. Wagner sah seine Werke "aus dem Geiste der Musik" (GS IV,319) hervorgehen, empfand die Tonkunst als "Mutterschoß" seiner Dramen, und diese selbst als ersichtlich gewordene Taten der Musik" (Über die Bennenung Musikdrama. GS IX,305f.). Als Indiz dafür, daß Wagners Werke der traditionellen Oper noch stark verbunden sind, dient die Verwendung einiger von Wagner strikt abgehlehnter formaler Gestaltungsmittel, wie etwa Arien (Walküre), Terzette (Götterdämmerung), Chöre (Götterdämmerung) oder traditionelle Formgerüste wie Ronden (Siegfried). (23)

Mit Sicherheit wurden von Wagner Erkenntnisse aus der bereits vollständig getroffenen Stoffauswahl und Stoffbearbeitung nachträglich in das theoretische System von "Oper und Drama" eingearbeitet. Von besonderem Interesse ist dabei Wagners Hinwendung zum Nibelungenmythos und die Verarbeitung der verschiedenen Vorlagen. Nicht ein eindeutiges Inspirationserlebnis führte zur Nibelungensage, sondern eine, für Wagners Arbeitsweise typische, schrittweise vollzogene Annäherung. Seine ursprüngliche Idee war ein Drama über Friedrich Barbarossa. Der Komponist meinte, einen Weg zu erkennen, der von den Staufern (den Ghibellinen) zu den Nibelungen zurückführe. Weil, so Wagner, das Italienische den deutschen W-Anlaut durch ein GH- substituiere, und weil die Ghibellinen mit den Nibelungen in eine Abstammungslinie gebracht werden sollten, müssen letztere ursprünglich Wibelungen geheißen haben.

Im Sommer 1848 fertigt Wagner den Aufsatz "Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage", aus dem nach Überarbeitungen "Der Nibelungen-Mythus. Als Entwurf zu einem Drama" wurde. Dieser Text bezieht sich allerdings nicht allein auf das klassische Nibelungenepos, sondern auf eine Fülle nordischer Sagen und Epen unterschiedlichster Provenienz. In einem Brief vom 9. Januar 1856 an Franz Müller in Weimar, der an einem Buch über die Nibelungensage arbeitete, führt Wagner selbst seine wichtigsten Quellen an:

1."Der Nibelungen Noth und Klage" herausgegeben von Lachmann. 2."Zu den Nibelungen etc." von Lachmann. 3."Grimm's Mythologie" 4."Edda" 5."Volsunga-Saga" (übersetzt von Hagen-Breslau) 6."Wilkina- und Niflungasaga" (ebenso.-) 7."Das deutsche Heldenbuch - alte Ausgabe", auch erneuert von Hagen. - Bearbeitet in sechs Bänden von Simrock. 8."Die deutsche Heldensage" von Wilh. Grimm 9."Untersuchungen zur deutschen Heldensage" von Mone - (sehr wichtig) 10."Heimskringla" - übersetzt von Mohnike (glaub ich!) (nicht von Wachter - schlecht!) (zit. n.: Wapnewski. 47,276) (24)

Wagner schmiedet aus dieser Materialfülle seinen "Ring", der als Mythos im Sinne der Ausführungen in "Oper und Drama" zu verstehen ist als "große Handlung in einem weiten Kreise von Beziehungen" (OuD,218) und als überindividueller Ausdruck der gemeinsamen Geschichte. In der Stoff- und Themenwahl vollzieht Wagner keinen simplen Rückschritt ins Griechentum, sondern er sucht - wieder ein dialektischer Schritt im Sinne der Kunstschriften - nach dem Mythos seiner Zeit, der dann wirken soll wie die antiken griechischen Mythen in ihrer Zeit.

Wagner versuchte, sich mittels des Mythos, "des urheberlosen Erzählens", als "identifizierbarer Urheber seiner Weltbild-Erzählung" (Brock. 19,25) zu eleminieren, was unverzichtbar war, wenn am Ende der Arbeit ein allgemein-verpflichtendes Weltbild stehen sollte. Aus dem Verhältnis der theoretischen Schriften Wagners (und der "Ring"-Dichtung) zu den eingangs referierten Erklärungsmodellen für das Gesamtkunstwerk erwachsen einige nicht zu übersehende Problemstellungen, mit denen sich letztlich auch die szenische Interpretation durch Regisseur und Dirigent konfrontiert sieht.

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(20) Die exakte Gattungsbezeichnung lautet jeweils "Romantische Oper in 3 Aufzügen". Für den "Tannhäuser" erwog Wagner zeitweilig die Bezeichnung "Handlung in 3 Aufzügen". Nach 1951 benennt Wagner seine Werke nicht mehr einheitlich. Für "Tristan und Isolde" gibt Wagner keinerlei Gattungsbezeichnung an, "Die Meistersinger von Nürnberg" sind "Eine Oper in drei Aufzügen", "Der Ring des Nibelungen" ein "Bühnenfestspiel für drei Tagen und einen Vorabend" und "Parsifal" schließlich "Ein Bühnenweihfestspiel" (zurück)

(21) Nähere Einzelheiten dazu, speziell zur mehrfach gescheiterten Uraufführung des "Lohengrin", bei Klaus Kropfinger. (Vgl.: OuD,444ff.) (zurück)

(22) Mai/Juni 1851 schrieb Wagner "Der junge Siegfried" (später "Siegfried"), nachdem er bereits den Abschied Brünnhildes von Siegfried und die Welterzählung der Nornen als Vorspiel in "Siegfrieds Tod" (später "Götterdämmerung") integriert hatte. Im Juni/Juli 1852 entstehen "Die Walküre" und im Herbst 1852 "Der Raub des Rheingoldes" (später "Das Rheingold"). Nach einer erneuten Anpassung des Textes von "Der junge Siegfried" wurde der vollständige Text von "Der Ring des Nibelungen" am 15. Dezember 1852 in einem Privatdruck von 50 Exemplaren veröffentlicht und auch während der Komposition nicht mehr wesentlich verändert. (zurück)

(23) Vgl. dazu: Pierre Boulez; Anmerkungen zur musikalischen Struktur. (18,243-250) (zurück)

(24) Für die genaue Erforschung der Quellen Wagners sind nach wie vor die Untersuchungen Otto Strobels von eminenter Bedeutung, auch wenn diese nicht immer verschont blieben von Einflüssen ihrer Entstehungszeit: Neue Wagner-Forschungen. Veroffentlichungen der Richard-Wagner-Forschungsstätte Bayreuth. Bd. 1, Karlsruhe 1943. Skizzen und Entwürfe zur RING-Dichtung. München 1930. (zurück)