Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

3. DIE "RING"-INSZENIERUNG PATRICE CHEREAUS

3.1 Das Material und die Methode der Inszenierungs-Betrachtung

Ich versuche im folgenden Kapitel meiner Arbeit, Chéreaus Bayreuther "Ring"-Inszenierung anhand des verstreut vorliegenden Materials in Schrift und Bild genauer zu untersuchen und zu beurteilen, als das in der Wagner-Literatur bisher geschehen ist. Ich halte es für sinnvoll und notwendig, den zahlreich vorliegenden, aber oft abbrevistischen Beurteilungen und Zusammenfassungen eine breiter angelegte, ausführlichere Betrachtung zur Seite zu stellen.

Das Bildmaterial für meine Untersuchung liefert die Fernsehaufzeichnung, die der Bayerische Rundfunk in den Jahren 1979/80 besorgte. Sie wurde 1980/81 erstmals ausgestrahlt und ist seitdem in unregelmäßigen Abständen wiederholt worden - zuletzt während der Niederschrift dieser Arbeit im Spätsommer 1989. (41) Es handelt sich bei dieser Aufzeichnung nicht um eine im Musiktheaterbereich sonst übliche Live-Übertragung oder Aufzeichnung mit Publikum, sondern um eine Bühnenaufführung unter Studio-Bedingungen. Diese Art der Aufzeichnung verbindet die Vorteile der film- und fernsehgerechten Gestaltung von Kameraführung, Schnitt und Beleuchtung mit der höchstmöglichen Authentizität der Darstellung, weil die Sänger und das Orchester trotz abwesendem Publikum unter Aufführungsbedingungen singen, spielen und musizieren müssen.

Freilich fehlt einer Fernsehaufzeichnung die direkte Kommunikation und Auseinandersetzung mit dem Publikum, aber sie ermöglicht auch demjenigen Kreis von Interessierten die Rezeption, der von den Festspielauffüh-rungen ausgeschlossen war oder einer späteren Generation angehört. (42) Wolfgang Diez und Peter Windgassen beurteilen die Fernsehaufzeichnung des "Ring" in ihrer Einführung zur ersten Ausstrahlung noch unter einem anderen Gesichtspunkt.

Die Fernseaufzeichnung verwirklicht im gewissen Sinn Wagners ursprüngliche Festspielidee, sein Werk kostenlos jedermann zugänglich zu machen.

Die Fernsehausstrahlung muß auch als Teil der Bayreuther Werkstattidee Wolfgang Wagners aufgefasst werden. Die Resultate die erzielt werden, wenn in Bayreuth das Werk Richard Wagners auf den Prüfstand aktueller Interpretation gehoben wird, sollen nicht nur dem kleinen Kreis der Festspielbesucher vorbehalten sein, sondern gehen, weil sie enorme Relevanz und Aussagekraft besitzen, viele an. Ist Chéreaus Inszenierung auf den ersten Blick spannendes Theater mit fesselnden Bildern, so scheint sie sich bei wiederholter Betrachtung und eingehender Beschäftigung immer mehr zu verästeln. Ein ausführlicher Kommentar scheint dringend notwendig zu sein.

Daran hat nicht übertriebene Regiewillkür die Schuld; es ist das Ergebnis einer genauen und ernsthaften Entschlüsselung dessen, was in Wagners "Ring" unser eigens Leben beschreibt und betrifft. (Diez/Windgassen) (43)

Diese aktuellen, unser Leben betreffenden Bezüge in Chéreaus Inszenierung sollen im Mittelpunkt meiner Darstellungen stehen. Ein Problem für die vorliegende Untersuchung stellt dabei der Zeitpunkt der Aufnahme und damit die momentane Gestalt der Inszenierung dar. Nach insgesamt fünf Jahren Laufzeit geben die Fernsehbilder die "Ring"-Inszenierung in ihrer letzten Gestalt wieder. Dennoch sind sie kein Endprodukt, denn Patrice Chéreau hat bis zur letzten Aufführung an seiner Inszenierung gearbeitet. Der Kritiker Reinhard Baumgart beschreibt diese für Chéreau typische Arbeitsweise so:

In der vorletzten Pause seiner allerletzten "Götterdämmerung" sitzt mir Chéreau in mildem Sonnenlicht gegenüber und redet über seine Arbeit, als stünde die Premiere noch bevor. Dann schiebt er mit einem Wust von Konzept- und Denkzetteln ab, hinter die Bühne, wo er bis in die letzten Tage Dampf und Licht und Bewegungen kontrolliert, die Sänger getätschelt hat, als Bühnenarbeiter eingesprungen ist: nach fünf Jahren noch sein eigener begeisterter Inspizient und Regieassistent. Das ist vermutlich ein Theaterweltrekord. (44)

Auch wenn Chéreau in seiner Arbeit scheinbar keinen wirklichen Endpunkt findet, sind die Korrekturen der letzten Aufführungen nur kleine Eingriffe. Schwerwiegende Änderungen, auch grundsätzlicher konzeptioneller Art, liegen weiter zurück. Chéreau sagt: "Der wirkliche RING fand [...] 1977 statt" (11,91), und er unterstützt somit indirekt die erbitterten Kritiker der Premierenversion von 1976. Wichtigste Änderung im zweiten Jahr des "Ring" ist die Einbindung zweier komplett neuer Bühnenbilder (Walhall und Walkürenfelsen), sowie die Überabeitung aller übriger Bühnenbilder und der Kostüme. Durch Umbesetzungen einzelner Rollen, durch weitere Proben und nicht zuletzt durch die höhere Akzeptanz Boulezscher Musikinterpretation seitens des Orchesters bekommt die Inszenierung immer wieder ein neues Gesicht, gewinnt immer reichere Faccetten.

Wenn man allen Feinheiten der Regie und der Rezeption gerecht werden wollte, müßte der Titel meiner Arbeit genaugenommen "Der RING in einer Fernsehaufzeichnung. Bayreuth 1979/80" lauten. Ich hielte das aber für allzu spitzfindig. Chéreaus Konzeption geht auf das Jahr 1976 zurück und ist, wenn auch mit kleinen Änderungen und Korrekturen versehen, bis 1980 gültig.

Neben dem Bildmaterial, das die Videoaufzeichnung bietet, stützt sich meine Betrachtung der Inszenierung sehr wesentlich auch auf Texte, die Chéreau und andere an der Inszenierung Beteiligte verfasst haben, um ihre Bayreuther Arbeit transparent zu machen und der Diskussion zu öffnen. Die wichtigsten Texte, auf die ich mich berufe, sollen in einem kurzen Überblick genannt werden. Im Abdruck eines Gespräch zwischen Carlo Schmid, Pierre Boulez und Patrice Chéreau in einem der Bayreuther Programmhefte des Jahres 1977 findet sich zum ersten Mal eine dezidierte Beschreibung des Inszenierungskonzeptes von Chéreau. Dieses Gespräch wird nachträglich von Boulez und Chéreau ausführlich kommentiert. (45)

Unter dem Titel "Die szenische Allegorie riskiert Evidenz" verfasst Chéreau eine zusammenfassende und wissenschaftlich genauere Konzeptionsbeschreibung, die er dem Dokumentationsband einer Tagung unter dem Motto "Ring - Heute" des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth beisteuert. Der 1980 - nach Ablauf der Produktion - herausgegebene Bildband "Der Ring. Bayreuth 1976 - 1980" enthält neben einer umfangreichen Fotodokumentation auch Texte, Arbeitsprotokolle und -kommentare von Peduzzi und Schmidt. Es sind die einzigen Äußerungen des Bühnenbildners und des Kostümbildners, die mir bekannt sind. (46)

Die aus Gründen der Authentizität und Übersichtlichkeit vorgenommene Beschränkung auf primäre, daß heißt unmittelbar mit der Inszenierungsarbeit in Zusammenhang stehender Texte, ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Untersuchungsmethode. Ich unterziehe die "Ring"-Inszenierung keiner Aufführungsanalyse, die Vollständigkeit anstrebt, sondern ich will versuchen, mich mit einer interpretierenden Betrachtung und Beschreibung den wichtigsten Aussagen zu nähern, die Chéreau in diesem 14-stündigen Werk betont.

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(41) Leider war es mir nicht vergönnt, Chéreaus Inszenierung in einer Bayreuther Festspielaufführung live sehen. Doch selbst die Fernsehaufzeichnung erregte in mir eine tiefe und starke Faszination, der eine intensive Beschäftigung mit dem "deutschen Ärgernis Wagner" (K. Umbach. 44,7) folgte. Die vorliegende Untersuchung ist nicht zuletzt ein Produkt dieser immer noch regen Faszination. (zurück)

(42) Götz Friedrich, dessen "Tannhäuser" als erste Bayreuther Produktion für das Fernsehen aufgezeichnet wurde, sagt dazu: "Natürlich trifft es zu, daß die lebendige Reaktion im Zuschauerraum - ob zustimmend, ob Protest - für das Fernsehen nicht ersetzt werden kann. Leserbriefe wiegen einen Beifalls-Orkan oder ein Buh-Konzert nicht auf. Aber für das Kommunikative einer Opernaufführung gibt es auch für die Fernsehrezeption Möglichkeiten, die kaum bekannt sind. [...] Die Alternative Opernhaus oder Pantoffelkino muß ja nicht ewig stimmen!" (Interview mit W. Bronnenmayer. In: 39,16) (zurück)

(43) Der Frage nachzugehen, wie weit die Ausnahmestellung der Chéreau-Inszenierung auf die Tatsache zurückzuführen sei, daß es sich bei der Fernsehaufzeichnung um die einzige komplette Bildaufzeichnung der Nibelungen-Tetralogie handelt, mithin also keine konkurrierenden Vergleiche möglich sind, scheint mir müßig zu sein. Chéreaus "Ring" genießt seinen Ruf nicht durch die generelle Verfügbarkeit auf Videobändern, sondern lediglich durch die exemplarische und einzigartige Interpretation. Durch das Videomaterial wird eine genau Analyse allerdings erleichtert. (zurück)

(44) Reinhart Baumgart; "Vierzehn Stunden durch Wagners Herz und Hirn. Ein Nachruf auf Chéreaus Bayreuther Inszenierung des 'Ring des Nibelungen'" . In: DIE ZEIT, Hamburg. 5.Sept.1980. Im Verlauf meiner Untersuchung werde ich mich häufiger auf Baumgarts Kritik beziehen, weil sein umfangreicher Text neben einer genauen Betrachtung der Inszenierung und deren Interpretation auch die im Laufe von fünf Jahren geäußerte Kritik dokumentiert und verarbeitet. (zurück)

(45) Der genaue Titel lautet: "Mythologie und Ideologie. Gedankenaustausch über die Neuinszenierung 'Der Ring des Nibelungen' 1976 zwischen Carlo Schmid, Pierre Boulez und Patrice Chéreau." Programmheft IV (Rheingold) der Festspiele Bayreuth 1977. Die Kommentare von Boulez und Chéreau befinden sich in: Programmheft VI (Siegfried) der Festspiele Bayreuth 1977. Dem Verfasser liegen zwar diese Programmhefte vor, dennoch sollen die Texte nach einem ungekürzten Abdruck in dem von Herbert Barth herausgegebenen Buch "Bayreuther Dramaturgie. Der Ring des Nibelungen" (38,373-436) zitiert werden, weil sie in dieser Buchausgabe ohne Schwierigkeiten zugänglich sind. (zurück)

(46) Ebenfalls in diesem Buch: Texte von François Regnault, über den Chéreau sagt: "Unter anderen Himmeln, mit anderen Zungen würde man ihn als Dramaturgen bezeichnen, er selbst mußte sich mit diesem Titel attribuieren, um angehört und gehört zu werden. Dramaturg ist aber ein Wort, was wir nicht mögen. [...] Ich möchte es deshalb, in Erinnerung an die Probenzeit, so ausdrücken: Während dieser dunklen Sommertage 1976, in denen wir keine Augen mehr zum Schauen hatten, war er es, der noch sehen konnte - war er der erste Zuschauer dieses RING" (11,38) (zurück)