Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

3.4 Mythologie und Ideologie

Der "Ring" beginnt mit einem Diebstahl ("Rheingold") und endet mit Mord, Selbstmord und Brandstiftung; dabei findet sich nirgends eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Von mythischer Größe ist im Zusammenhang mit dem "Ring" schon deswegen nicht zu sprechen, weil keine Lichtgestalten verherrlicht, keine Heroen idealisiert und keine Gottheiten erhoben werden. Angesichts der massiven Anhäufung von Verbrechen, als da wären Verschleppung, Erschleichung, Totschlag, Entführung, Blutschande, Bigamie, Anstiftung zum Mord und Mord, kann nur ein naiver Betrachter, der in Unkenntnis des genauen Geschehens ist, die Glorifizierung der germanischen Götter- und Menschengeschlechter in Wagners Werk vermuten. (60)

Selbst wenn man von einer durchgängigen Gestaltung des "Ring" als Mythos im traditionellen Verständnis ausginge, ließe sich dieser Interpretationsansatz nicht bruchlos durch das ganze Werk verfolgen. Das liegt an der Vermischung von mythologischen mit ideologischen Elementen, die Wagner vornahm, ohne dabei jedoch das eine oder das andere Element in den Vordergrund zu rücken. Ideologie und Mythologie sind im "Ring" von gleicher Bedeutung und Gewichtung.

Ausgangspunkt der "Ring"-Konzeption war "Siegfrieds Tod", ein Drama, das sich hauptsächlich mit der Utopie des freien Menschen beschäftigte und das sehr nahe an die politischen Realitäten der gescheiterten Revolution von 1848 angelehnt war. Mit dem Anwachsen des Stoffes wurde der "Ring" zunehmend mythologisch. Je weiter Wagner sich im "Ring"-Text dem späteren Anfang, dem "Rheingold", in Rückwärtsbewegungen näherte, desto mehr näherte sich der Text auch den Vorlagen der Edda an. Ist "Siegfrieds Tod" (die spätere "Götterdämmerung") noch ein Drama der Menschen, das Drama einer Welt ohne Götter, so ist "Rheingold" das genaue Gegenteil, nämlich ein Drama der Götter um Wotan und um dessen selbsternannten Gegengott Alberich. Menschen kommen als handelnde Personen nicht vor; neben den Göttern sind lediglich Zwerge (die Nibelungen) und Riesen (Fasolt und Fafner), also reine Märchenfiguren, die Akteure des "Rheingold".

"Rheingold" ist folglich die mythologischste der vier "Ring"-Opern. Gleichzeitig gestaltete Wagner "Rheingold" aber auch als Spiegel der Ideologien des 19. Jahrhunderts. Die Götter sind, so Chéreau, "viel mehr noch die Bourgeois-Familie, der Stamm und der Clan des 19. Jahrhunderts" (38,390). Daß die Götter nicht nur mythologisch miteinander verwandt sind, sondern ganz konkret im Sinne der bürgerlichen Familie, betont Chérau überdeutlich. Besonders auffällig ist dieses Gestaltungsprinzip in der Anlage der Beziehungen zwischen Wotan und seiner Gattin Fricka, in denen man ohne weiteres die psychologischen Gestaltungsmerkmale eines Ibsendramas wiedererkennt. (61)

Doch nicht nur die Vorstellungen über die großbürgerliche Familie als soziale Kernzelle des gesellschaftspolitischen Lebens im 19. Jahrhundert werden gespiegelt, sondern schlechthin das gesamte politische Programm und die politische Botschaft der Dresdener Jahre Wagners, "der beim Schreiben des 'Rheingold' im Sinne von Proudhon gut hätte sagen können: 'Eigentum ist Diebstahl'" (Chéreau. 20,134).

"Rheingold" ist, weil es überdeutlich durch politische Ideologien gekennzeichnet ist, auch am ehesten für eine marxistische Lesart geeignet. George Bernhard Shaw hat dies mit "The Perfect Wagnerite" (62) versucht, indem er sozialistisches Gedankengut im "Ring" aufspürt und in direkten Bezug zur sozialistischen Ökonomie-Theorie Karl Marx' stellte. Ein kritischer Leser der Analysen Shaws stellt jedoch schnell fest, daß Gleichsetzungen wie Kapital=Ring, Walhall=Villa Hügel, Nibelungen=Proletariat und Götter=Bourgeoisie zwar im "Rheingold schlüssig sind, aber in den anderen "Ring"-Teilen zunehmend unscharf und ungültig werden. (63)

In der Figur Siegfrieds nur den Typus des anarchistischen Revolutionärs zu sehen, ihn als Siegfried Bakunin zu bezeichnen, ist lediglich eine flinke Parallelisierung und bleibt pragmatisch und evolutionär an der Oberfläche. Zwar kann Shaw sich, wenn er so vorgeht, auf Wagners Biographie und auf die Dresdener Revolution berufen, er übergeht aber gleichzeitig entscheidende Facetten der Siegfried-Figur, die offensichtlich von seiner Lesart des "Ring" nicht berücksichtigt werden können. Die "Götterdämmerung" bezeichnet Shaw, weil sie sich seinem Interpretationsansatz gänzlich entzieht, abfällig als Große Oper.

Shaw wirft Wagner vor, er sei mit der "Götterdämmerung" wieder dem gängigen Genre der Oper verfallen, habe die eigenen Vorstellungen vom Musikdrama verleugnet. (64) Bezeichnend ist jedoch, daß die Passagen und Inhalte, die Shaw nur oberflächlich behandelt oder einfach übergeht, genau jene Stellen sind, an denen in der Konzeption Richard Wagners die Absicht zur Gestaltung eines künstlichen Mythos gegenüber der Absicht, gleichzeitig Ideologien des 19. Jahrhunderts zu verarbeiten, die Oberhand gewinnt. Diese Wechselbeziehung zwischen Ideologie und Mythologie beruht auf einem Prinzip der Gegenläufigkeit von mythischer Ferne und bürgerlich historisierender Nähe.

Dem zeitgenössischen Rezipienten werden die Götter, die mythologischsten Figuren, aus den ältesten Überlieferungen der Edda, durch die Gestaltung mit historisch nahen und einleuchtenden Ideologien gegenwärtiger. Die Welt der Götter läßt sich mit den gleichen politischen Modellen erklären, wie die Welt des Großbürgertums. Je weiter aber im Verlauf der "Ring"-Handlung die mythische Ferne abgebaut wird, es sich also, wie bereits beschrieben, immer mehr um eine Welt ohne Götter handelt, desto weniger lassen sich auch Ideologieelemente des 19. Jahrhunderts finden. Anders herum formuliert; je kleiner die mythologische Distanz wird, desto größer wird die ideologische Distanz.

Die Protagonisten in "Walküre" und "Siegfried" (Siegmund, Sieglinde, Siegfried und Brunnhilde) sind, obwohl sie Nachfahren Wotans sind, in der Welt der Menschen aufgewachsen. Die mythische Distanz zu diesen Figuren ist im Vergleich zur reinen Götterwelt recht gering, aber gleichzeitig verkörpern diese Figuren ein ideologisches Ideal, eine politische und soziale Utopie, die mit den Kategorien geläufiger Ideologien nicht mehr zu fassen sind. Dadurch behalten die Figuren dem Rezipienten gegenüber eine große Distanz; eine Distanz, die die Figuren weit mythischer erscheinen läßt als etwa die Götter.

Mit dem Volk der Gibichungen tritt dem Zuschauer in der "Götterdämmerung" zuletzt eine Gruppe von Menschen gegenüber, die ihm aufgrund des Fehlens jeglicher Verwandtschaft mit Göttern oder anderen mythologischen Figuren historisch und gesellschaft-lich nahe stehen müßte. Doch gerade dieses Volk wirkt, trotz der Kostüme, die auf das 19. Jahrhundert und die Gegenwart verweisen, wie ein mythisches Urbild und ist im höchsten Maße archaisch.

Die Menschen sind den Spätfolgen der Aktionen der Götter (und Gegengötter) wehrlos ausgesetzt, ihnen bleibt nur übrig, zu reagieren. Chéreau betont dies, wenn er das Volk im letzten Akt der "Götterdämmerung" zweimal als stummen Chor auftreten läßt, der mit ratlosen Blicken das Geschehen verfolgt und somit wortlos kommentiert. Das erste Mal nach Siegfrieds Tod, wenn der Chor in den Orchestergraben blickt und stumm den Klängen des Trauermarsches lauscht, das zweite Mal, wenn die Menschen nach dem Weltbrand zu den Schlußakkorden ihren Blick zugleich fragend und anklagend in den Zuschauerraum richten und auch nach dem Verklingen des letzten Ton diese Stellung beibehalten, bevor sich der Vorhang endgültig senkt.

Das Verhältnis von Mythologie und Ideologie im "Ring" läßt sich einfach zusammenfassen. Je weiter sich die Figuren von der Sagen- und Mythenwelt der Edda entfernen, desto weniger sind sie mit Hilfe von vertrauten Ideologien (speziell denen des 19. Jahrhunderts) gestaltet und zu verstehen; sie bekommen, obwohl sie der Gegenwart historisch am nächsten sind, einen distanzierten, mythisch-archaischen Charakter. Umgekehrt sind die mythologischsten Figuren, die der Gegenwart historisch am entferntesten sein müßten, mit Hilfe politischer Ideologien des 19. Jahrhunderts der mythischen Distanz entrissen und der historischen Gegenwart recht nahe. Dieses Phänomen, das eine Inszenierung des "Ring" so erschwert, hat Patrice Chéreau genau erkannt.

Die Schwierigkeit der Inszenierung liegt darin, diesen verschiedenen Elementen Rechnung zu tragen und zu wissen, daß eine ausschließlich mythologische Deutung das Werk entschärfen und auf einen künstlichen Olymp verbannen würde, in dem wir uns nicht mehr erkennen könnten. Ebenso würde eine ausschließlich politische Deutung das Werk zu einer Gelegenheitsarbeit herabwürdigen. (Chéreau. 20,134)

Eine für Chéreau akzeptable Deutung des "Ring" muß durchgängig Mythologie und Ideologie vereinen, denn nur so sind politische Gelegenheitsarbeit und künstlicher Olymp einer traditionellen Mythologie zu vermeiden. Beides kann auch Wagner nicht beabsichtigt haben; die Ausführungen über seine Ästhetik und über die "Ring"-Genese legen diesen Schluß nahe (vgl. Kapitel 1).

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(60) Ein Jurist hat 1968 unter dem Pseudonym Ernst von Pidde den Versuch unternommen, freilich mit Humor und einer gehörigen Prise Ironie, den "Ring"-Text im Lichte des deutschen Strafrechts zu untersuchen. Fünfmal lebenslänglich Zuchthaus und 90 Jahre Freiheitsentzug springen unter dem Strich für das Personal des "Ring" heraus. Hinter diesem juristischen Jux steht die Einsicht, daß der "Ring"-Mythos eines verdeutlicht: das Versagen, sowohl der Götter, als auch der Menschen, vor den selbstgesetzten Normen und sittlichen Regeln. Üblicherweise haben Mythen genau die entgegengesetzte Funktion. Vgl.: Ernst von Pidde, Richard Wagners Ring des Nibelungen im Lichte des deutschen Strafrechts. Frankfurt/m. 1968. (zurück)

(61) Luca Ronconi hat in seinem Mailänder "Ring" (1974/75) die Götter als Buddenbrooks inszeniert, also den Bezug zur bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts überdeutlich hergestellt. Allerdings vergaß er darüber die mythologische Komponente völlig, was seine Interpretation als unvollständig und somit unbefriedigend erscheinen läßt. (zurück)

(62) Die deutsche Ausgabe trägt den dümmlichen, zumindest aber irreführenden Titel: G.B.Shaw, Ein Wagner-Brevier. Kommentar zum Ring des Nibelungen. Frankfurt/M. 1973. (zurück)

(63) Wagner selbst hat bereits zu seinen Lebzeiten eine Interpretation dieser Art mehrmals indirekt unterstützt. Nach der Besichtigung der Londoner Hafen- und Dockanlagen während eines Englandaufenthaltes sagte er zum Beispiel, daß sich der Traum Alberichs hier erfüllt hätte. (Vgl.: Cosimas Tagebücher. (5.II,1052)) (zurück)

(64) In diesem Zusammenhang muß berücksichtigt werden, daß Wagner den Handlungsablauf und den Text zur "Götterdämmerung" bereits sehr früh konzipiert hat. Somit sind traditionelle Elemente wie Terzette, Chöre und theatralische Eidschwüre nicht einmal so ungewöhnlich. Die kompositorische Gestaltung des Textes - am Ende der 25-jährigen "Ring"-Entwicklung - stellt diesen einfachen theatralen Vorgängen aber diffizilste und dichteste musikalische Motiv-Verknüpfungen zur Seite, so daß der Gesamteindruck, den die "Götterdämmerung" auf den Zuschauer ausübt, alles andere als einfach und traditionell zu nennen ist. (zurück)