Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

4. VERSUCH EINER SUMME

Es ist schwierig, die "Ring"-Inszenierung Patrice Chéreaus mit der Idee des Gesamtkunstwerkes in Verbindung zu bringen, weil der Regisseur selbst dieses Thema zu keiner Zeit anschneidet. Aber auch wenn das Gesamtkunstwerk von Chéreau nicht explizit angesprochen wird, schwingt die Tragweite dieses Problemkomplexes jederzeit mit. Im folgenden Abschnitt versuche ich, die beiden von mir in Kapitel 1 und Kapitel 3 getrennt durchgeführten Untersuchungen zur Wirkung des Werkes Wagners bis in unsere Zeit thesenartig zu verbinden. Wie verhält sich der Bayreuther "Ring" der Jahre 1976 - 1980 zum Konzept Gesamtkunstwerk?

Die Darstellung der Kunstschriften Wagners und der "Ring"-Genese haben in Kapitel 1 gezeigt, daß Wagners "Ring" in erster Linie eine Verarbeitung der revolutionären Reformideen war. Wagner arbeitete politische Vorstellungen von einer postrevolutionären Gesellschaft in seine Kunsttheorie ein. Für die Idee des Gesamtkunstwerkes folgte daraus, daß Wagner die Enttäuschung der revolutionären Naherwartung mittels eines ästhetischen Systems zu kompensieren versuchte. (66) Wagners Konzeption des Musikdramas als Beitrag zur Entwicklung des Gesamtkunstwerkes der Zukunft war also eine Flucht in die Welt des ästhetischen Scheins. Die Utopie von der Revolution der Gesellschaft wird zugunsten der Utopie von der Revolution der Kunst aufgegeben. Nur auf der inhaltlichen Ebene des Wagnerschen Kunstwerkes spielt die Utopie einer freien Gesellschaft noch eine Rolle. Doch auch diese Utopie, die sich auf der inhaltlichen Ebene in den Figuren Siegmunds und Siegfrieds verkörpert, ist zum Scheitern verurteilt; mithin kann vom "Ring" als von einer negativen Utopie gesprochen werden. (67)

Chéreau macht diese negative Utopie zum Schwerpunkt seiner Inszenierung und erweitert sie sogar. Sein "Ring" ist als Trauerspiel der Macht - als Tragödie der Politik - eine negative Utopie, die jegliche Form des politischen Systems einschließt und sich somit den kulturpessimistischen Analysen Wagners in den Kunstschriften anschließt. Folgerichtig belegt Chéreau in seiner Inszenierung besonders die Elemente der Ideologie des 19. Jahrhunderts mit einer negativen Wertung. Der deutlich sichtbare Bezug auf Wagners Zivilisationskritik ist aber nur der erste von zwei Berührungspunkten mit Wagners kunsttheoretischen Schriften.

In "Oper und Drama" führt Wagner als das eigentliche Sujet des Musikdramas den Mythos an. Der Mythos ist für ihn der einzige dichterische Anknüpfungspunkt, um der geschichtlichen und sozialen 'Vielstoffigkeit' und 'Vielhandligkeit' des Romans, der Ausdruck des prosaischen Zeitalters ist, entgegenzutreten. Wagner beabsichtigt dabei keinesfalls, alte Mythen etwa im Sinne der klassischen Haute Tragédie Racines nur wiederzubeleben. Es geht vielmehr darum, neue Mythen zu schaffen, die politische und gesellschaftliche Realitäten auf die gleiche Weise verarbeiten, wie das die Mythen der Griechen getan haben. Nicht um den Inhalt der alten Mythen geht es Wagner, sondern um die Technik, der sie sich bedienen, um eine adäquate Beschreibung der Realität liefern zu können. Der Mythos ist eine "große Handlung in einem weiten Kreis von Beziehungen" (OuD,218).

An die Stelle der gespiegelten Wirklichkeit tritt die Fiktion einer gedachten Wirklichkeit, die als "Verdichtung" und "Steigerung" (OuD,218 u. 225) die Komplexität der Wirklichkeit nicht auflöst, sondern erst begreiflich macht. Der Mythos ist ein überindividueller und kollektiv verständlicher Ausdruck der Wirklichkeit, der mittels der herkömmlichen prosaischen und partikularen Kunstformen nicht möglich ist. Ein derart gestalteter Mythos ermöglicht es, eine ganzheitliche Sicht auf die Realität im Kunstwerk transportieren zu können, die selbst dann mit einem sehr hohen Grad an Wahrhaftigkeit versehen ist, wenn es sich bei dieser Ganzheitsvorstellung um eine Fiktion oder Utopie handelt. Nach den Definitionsversuchen von Marquard und Brock ist eine solche neo-mythische Gestaltung ein wesentlicher Bestandteil der Gesamtkunstwerksidee.

Auch Patrice Chéreau inszeniert den "Ring" in der Gestalt eines neuen Mythos. Es ist ein Mythos, der als eine mögliche Sicht auf das 19. Jahrhundert formuliert wurde. Die Epoche der industriellen Revolution, in der das Großbürgertum verschwand, um den veränderten Verhältnissen Raum zu geben, die in ihrer Folge das 20. Jahrhundert bestimmt haben. Die Geschichte dieser Epoche wird in der Form eines Mythos erzählt, der an die Stelle einer exakt gespiegelten Historie eine fiktive Wirklichkeit setzt, die eindeutig mehr von unseren Vorstellungen und Träumen von dieser Epoche und den Ursprüngen unserer Gesellschaft ausgeht als von den verifizierbaren Fakten. In einer solchen neo-mythischen Sicht auf die Vergangenheit lassen sich auch Ängste und Zwangsvorstellungen hervorragend einbauen. (68)

Vergangenheit und Gegenwart treten sich so in einem fruchtbaren Wechselspiel gegenüber, das in den resultierenden Bildern emminent theatralisch ist und wesentlich lebendiger als ein historisches Drama sein kann. Chéreaus "Ring" als Mythologie des 19. Jahrhunderts ist der Idee des Gesamtkunstwerks also verwandt. Daß Chéreau sich des Begriffes Gesamtkunstwerk selbst nicht bedient, hat einen anderen Grund.

Chéreau sagt, daß Wagners Rekurs auf den Mythos gleichzeitig eine Art Verfremdung, eine Distanzierung im Sinne Brechts sei (11,57). Doch bei Wagner geht es um mehr als nur um zeitkritisches Theaterspielen, das mit den Techniken der Verfremdung ansprechend verpackt wird. Vielmehr als bei Brecht liegt bei Wagner der Versuch zu einer grundlegenden Bestimmung der Kunst vor: ihr Zweck ist es, den verborgenen Sinn der Dinge zu offenbaren. Deshalb eignet sich auch Wagners "Ring" wesentlich besser dazu, als szenische Allegorie phantasmagorisch, visionär und philosophisch verbrämt gestaltet zu werden; ein weiteres Indiz dafür, daß Wagners Kunstideal den Ideen des Schellingschen Identitätssystem und, so Marquard, dessen Emigration ins Gesamtkunstwerk sehr nahe steht.

Trotz der vielen offensichtlichen Verbindungen, die sich von Chéreaus Inszenierung zur Idee des Gesamtkunstwerkes ziehen lassen, betrachtet Chéreau den "Ring" eher als ein exemplarisches Theaterstück des 19. Jahrhunderts, das nur aufgrund seiner Heterogenität und der sich daraus ergebenden Vielzahl von Interpretationen weit in das 20. Jahrhundert hineinragt; es eignet sich deshalb auch hervorragend dazu, stets aufs Neue aktuelle Zeitbezüge offenzulegen.

Abschließend muß besonders darauf hingewiesen werden, daß Patrice Chéreau in seiner Inszenierung keinerlei Konzessionen gegenüber dem latenten Esoterismus im Werk Wagners und dessen Erscheinung als verkappter Religion macht. Das Theater Wagners geht, wenn man den Worten Thomas Manns Glauben schenken darf, zurück auf die "heimliche Sehnsucht und den letzten Ergeiz allen Theaters"; das ist "der Ritus, aus dem es bei Heiden und Christen hervorgegangen ist" (35,88).

Bazon Brock bezeichnet den Übergang vom Gesamtkunstwerk, das zunächst nichts anderes ist als eine gestaltete Utopie, in die Totalkunst als Übertragung der Fiktion in die Realität. Eine Übertragung dieser Art schwingt im Gesamtkunstwerk Wagners latent mit. Die Festspiele haben im Verlauf ihrer 110-jährigen Geschichte gezeigt, daß eine allgeimene Verpflichtung unter die Ganzheitsvorstellungen, die in Wagners Spätwerken "Ring des Nibelungen" und "Parsifal" formuliert werden, von der Wagnernachfolge - ich nenne sie an dieser Stelle bewußt abwertend Wagnerianer - schnell zum Postulat erhoben wurde. Ähnliche Ansprüche auf die Vermittlung einer letzten Weisheit erhob Chéreau zu keiner Zeit, genauso wenig beabsichtigte er, Wagners Werk ins Lächerliche zu ziehen oder zu korrumpieren.

Chéreaus Inszenierung des "Ring" bleibt im Sinne von Bazon Brock 'kunstimmanent', bloß dem 'ästhetischen Schein' verpflichtet, ist also ein Gesamtkunstwerk, das nur eine Fiktion, nur eine der vielen möglichen Ganzheitsvorstellungen äußert. Nicht im mindesten wird eine rituelle Übernahme in die Lebensrealität der Zuschauer eingefordert. Ein Gutteil der heftigen und überspannten Kritik an Chéreaus Inszenierung war aus diesem Grund von vorneherein unberechtigt, denn sie ging stillschweigend vom Gegenteil aus. Ich möchte nicht zuletzt aus diesem Grund meine Arbeit mit einer resümierenden Äußerung Patrice Chéreaus, die zugleich den Blick auf zukünftige Inszenierungen des "Ring" richtet, schließen.

Während dieser fünf Jahre in Bayreuth hatte ich eine wunderbare Lust daran, die Geschichte des "Ring" so zu erzählen und sie meinen Zeitgenossen in allen Einzelheiten zu zeigen. Andere Regisseure, bessere oder schlechtere, werden kommen und diese Geschichte auf ihre Art und Weise erzählen. Kunst, die auf einer Bühne stattfindet, ist vergänglich und flüchtig. (11,93)

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(66) Adorno spricht sinngemäß davon, daß die Figur Wotans die Phantasmagorie der begrabenen Revolution sei und Wagners pessimistische Gesamtausage im Ring dem Pessimismus des übergelaufenen Rebellen einen Ausdruck verleiht. (zurück)

(67) Inwiefern auch Wagners Versuch einer Theaterreform, der seinen Ausdruck in der Etablierung der Bayreuther Festspiele fand, scheiterte, soll an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Festzuhalten ist, daß die Festspiele Bayreuth gemessen am heutigen Theaterwesen (bes. dem heutigen Musiktheater) nach wie vor eine spezielle Stellung einnehmen, selbst wenn nicht alle Träume, die Wagner mit den Festspielen verband, in Erfüllung gingen. (zurück)

(68) Auf die Verbindung von Mythos und Psychologie in Wagners "Ring", die ich nicht weiter ausführen möchte, geht auch Thomas Mann in seinem Aufsatz "Leiden und Größe Richard Wagners" (35,63-121) genau ein. (zurück)