Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

3.2 Das szenische System

Bevor die Untersuchung der Inszenierung konkret wird, soll geklärt werden, was ich unter szenischem System im Gegensatz zur szenischen Aktion verstehe. Im Begriff des "szenischen Systems" verstehe ich das Wort Szene im Sinne von Bühne, Schauplatz und Ort der Handlung, das Wort System im Sinne von Gesamtheit, Gefüge von Teilen, die voneinander abhängig sind, ineinandergreifen oder zusammenwirken. Im Begriff der "szenischen Aktion" dagegen verstehe ich Szene auch als bewegten Auftritt und Teil eines dramatischen Handlungs-gefüges; szenische Aktionen sind die Handlungen, die Geschehnisse und die Ereignisse, die in einem bestimmten Teil des Dramas auf der Bühne ablaufen.

Bühnenbilder und Kostüme sind genau aufeinander abgestimmte Systeme, die letztlich szenische Aktionen erst plausibel und nachvollziehbar machen. Im Gegensatz zu den Schauspielern oder Sängern, die Träger der szenischen Aktion sind, besteht das szenische System aus leblosen Gegenständen und Hüllen, mit und in denen die Schauspieler und Sänger die Inszenierungsidee eines Regisseurs mit Leben füllen. Das szenische System aus Bühnenbildern und Kostümen läßt sich daher auch leichter als die szenische Aktion mittels stehender Bilder (Fotos, Zeichnungen etc.) dokumentieren und beschreiben.

In meiner Untersuchung werde ich das szenische System und die szenische Aktion in Chéreaus "Ring"-Inszenierung getrennt untersuchen, dabei die grundlegende Konzeption Chéreaus und seines Teams kontinuierlich in die Betrachtung einfließen lassen. Trotz dieser Aufspaltung von szenischem System und szenischer Aktion, kann im Folgenden, so denke ich, ein umfassender Überblick zum Verständnis der Inszenierung und ihrer Bedeutung im Ablauf der Bayreuther Festspielgeschichte gegeben werden.

3.2.1 Die Bühnenbilder

Patrice Chéreau stellt wie Wieland Wagner zu Beginn seiner "Ring"-Arbeit die Frage nach der Bedeutung der szenischen Anweisungen im "Ring"-Text. Sind diese Anweisungen Richard Wagners ebenso wörtlich zu nehmen, wie Musik und Dichtung? Diese Frage beantworten Chéreau und sein Bühnenbildner Richard Peduzzi mit einem klaren Nein. Die szenischen Anweisungen Wagners dürfen weitestgehend übergangen oder zumindest revidiert werden, um im "Ring" eine aktuelle und zeitbezogene Aussage freilegen zu können. Am auffälligsten ist (und das wurde auch mit der heftigsten Kritik bedacht), daß dort wo Richard Wagner naturnahe Plätze oder Natur selbst als Ort der Handlung vorsah, bei Chéreau Architektur dominiert. Die Beschreibung dieses szenischen Systems aus Architektursymbolen und Architekturzeichen unterschiedlichster Epochen, in dem die Personen agieren und auf das sie reagieren, soll mit Walhall ("Rheingold", Bild 2) beginnen.

Die Götterburg Walhall soll weithin sichtbares Zeichen der Macht Wotans sein. Der Stil dieses Bauwerks entspricht nicht einer bestimmten Stilepoche. Während sich der obere Teil scheinbar in den Wolken verliert, scheint der untere Teil und die Grundmauern in der Erde zu versinken. Das Eingangsportal setzt sich zusammen aus einem Hauptgesims mit Szenen eines heidnischen Opfers, das zur Rechten durch einen Säulenstumpf aus Marmor, überragt von einem klassischen Kapitell, gestützt wird und auf der Linken durch einen tristen Eckpfeiler aus Sichtbeton, so als ob der luxuriöse Bau plötzlich unterbrochen wurde. Die rechte Hälfte Walhalls besteht aus einer glatten Sichtbetonwand und die linke Hälfte, ebenfalls aus Beton, wird gegliedert durch zwei Fensterreihen. Diese Fensterreihen sehen allerdings eher aus wie leere Öffnungen in das offensichtlich große und kalte Innere der Burg. (47)

Nur ein Teil der monströsen Imponierarchitektur Walhalls ist sichtbar, die wahren Dimensionen dieses Bauwerks sind zu groß für den einsehbaren Bühnenausschnitt. Der Bühnenvordergrund wird rechts und links von Ziegelwänden begrenzt; an der rechten Wand erkennt man Ansätze weiterer Architekturelemente aus der griechischen Antike. Die Bildelemente, die am befremdlichsten wirken, sind zum einen ein großes industrielles Räderwerk, das aus einer Walzstraße oder einem anderem Großbetrieb der Jahrhundertwende stammen könnte, und zum anderen der Gitterboden als Spielfläche. Beides sind optische Indizien für ein ausgedehntes, teilweise unterirdisch gelegenes System von Maschinenräumen. Die Macht der Götter stützt sich offensichtlich auf das Beherrschen der Kraft der Technik, mit der sich Wotan die Natur untertan gemacht hat. Der Gitterboden und die Räderwerke tauchen in unterschiedlichsten Kombinationen immer wieder auf; die Natur ist in Chéreaus "Ring", lange bevor die Handlung einsetzt, von der Technik und deren industrieller Anwendung vergewaltigt worden.

Das erste Bild des "Ring" verdeutlicht dies auf drastische Weise. Die Rheintöchter leben nicht, wie bei Wagner vorgesehen, in der unberührten Tiefe des Flusses ("Rheingold", Bild 1) sondern an und in einem Stauwehr, das von Nebel und Wasserschwaden umwirbelt wird, und in dem über seine ganze Breite eine gewaltige Kupferrolle von den Wassermassen in Bewegung gehalten wird. Dieser Staudamm beherbergt in seiner Mitte das Rheingold. Der Staudamm kontrolliert den lebendigen Strom und verwandelt dessen Kraft in Energie, die in das Maschinensystem, das die Welt überzieht, eingespeist wird. Später, wenn Siegfried an diesem Staudamm ermordet wird ("Götterdämmerung", III,1) ist er verödet und verrostet und die Kupferwalze steht still; äußeres Zeichen für den Untergang des Imperiums Wotans, dem zu Beginn der Tetralogie mit Walhall das adäquate Denkmal gesetzt wird.

Das Innere Walhalls ("Walküre", II,1) präsentiert sich wie vermutet. Kalte und erdrückend-hohe Marmormauern umstellen das Arbeitszimmer des Weltbeherrschers. Im Hintergrund gibt eine hohe im klassizistischen Stil gestaltete Türöffnung den Blick frei in eine weite Flucht von Gängen und Sälen. Ein Stuhl und ein mannsgroßer Spiegel sind die einzigen mobilen Einrichtungsgegenstände. Optischer Mittelpunkt des Palastraumes ist ein Pendel, dessen Aufhängungspunkt hoch oben im Schnürboden zu vermuten ist. Es kreist um eine Wind-rose in der Bühnenmitte, Zeichen des Weltlaufs nach dem Willen des Weltbeherrschers. Walhall ist einerseits Repräsentationsarchitektur als Mittelding zwischen Prunkbau und Festung, aber andererseits gleichzeitig Bunker und Gefängnis. Diese Variante des Gebrauchs von Architektur, nämlich Bauwerke als Zeichen der Macht und Stärke zu errichten, begegnet dem Betrachter noch zwei weitere Male im "Ring".

Der Hof Hundings ("Walküre", 1. Aufzug) ist ein großer Innenhof der nach hinten von einer hohen, zweigeschossigen Fensterfront abgeschlossen wird. Hinter diesen Fenstern sieht der Zuschauer Bäume und den freien Himmel. Die Gebäude rechts und links sind klassizistische Bauwerke, die mit Säulen und Simsen verziert sind. Hunding zeigt sich als Großgrundbesitzer, der seine gesetzlich legitimierte Macht anmaßend mittels klassischem Stil, mit goldenem Schnitt und mit edlen Materialien maskiert. Auch Hundings Hof ist - wie Walhall - gleichzeitig ein Gefängnis; Sieglinde, ungefragt in die Ehe mit Hunding gezwungen, ist eingesperrt in diese Mauern, gehört zum Besitz ihres Mannes. Die Natur ist vom häuslichen Leben durch eine Wand getrennt, lediglich der Blick durch die Fenster vermittelt etwas von der anderen Seite des Lebens; der Seite des Lebens, die noch nicht Stein wurde. (48)

Dieselbe Veruntreuung ästhetischer Formen als Maske der Macht findet sich in der Welt der Gibichungen. Gunter und Gutrune ("Götterdämmerung", I,1) leben in einer hohen, den ganzen Bühnenraum einnehmenden Halle, die auf vier tiefschwarzen, klassisch-griechischen Säulen ruht. Auch die sich rechts und links anschließenden Gebäudeteile sind schwarz, wirken wie aus Eisen gegossen. Nach hinten öffnet sich der Blick auf den Strom und einen weiten, endlosen Horizont. Das Bildmotiv des Gitterbodens ist auch hier sichtbar. Der Gitterboden verband Walhall mit dem unterirdischen Reich der Nibelungen, einem Bergwerk, das die industrielle Unterwelt darstellt, und in dem Alberich nach dem Raub des Rheingoldes die Technik der Götter für seine Gewaltherrschaft über das Volk der Nibelungen usurpiert. (49) In der Halle der Gibichungen ist der Gitterboden die Verbindung zur tristen Arbeitswelt des Hafens ("Götterdämmerung", II und III,2). Dieses Bühnenbild wird dominiert von einer rußigen, dreckigen Häuserfront, die aus Ziegelsteinen errichtet wurde und mit metallenen Feuerleitern und blinden, zugemauerten Fenstern verunstaltet ist. Dieses Hafenbecken - irgendwo zwischen Positano, Hamburg oder Brooklyn - ist ein Überall und Nirgendwo der industriellen Endzeit. Dieses Hafenbecken und seine Bewohner stellen das Schlußbild der Tetralogie.

Die bis hierher beschriebenen Schauplätze werden von Technik und Architektur dominiert. Das organische und lebendige System der Natur erscheint gar nicht, oder nur am Rande. Die Natur ist entweder durch Mauern vom Lebensraum der Menschen getrennt (Hundings Hof) oder wird dazu genutzt, das technische System Wotans mit Energie zu speisen (Staudamm). Daneben existieren im "Ring" aber auch Spielorte, die weit ab von menschlichen Ansiedlungen in freier Natur liegen. Wie bauen Chéreau und Peduzzi diese Schauplätze in ihr szenisches System ein, das, so weit es vorgestellt wurde, von einer gestalteten und verwalteten, mit Bauwerken voll-ständig überzogenen Welt ausgeht?

Ein Zwitter aus Architektur beziehungsweise Industrie und Natur ist die Höhle Mimes ("Siegfried", I), der Ort der Jugend Siegfrieds und des Exils des Nibelungenschmiedes. Im Vordergrund befindet sich der bekannte Gitterboden, der rechts und links von Resten gemauerter Ziegelwände begrenzt und abgeschlossen ist. Am rechten Bühnenrand sieht der Zuschauer ein altes Schwungrad wieder, das schon in Hundings Besitz zu sehen war. In der Mitte der vorderen Spielfläche ist eine Grube eingelassen, in der sich ein Amboss und Arbeitsgeräte des Schmieds befinden. Aber auch Kleidungsstücke, ein Koffer, Kochutensilien, altes und schmutziges Bettzeug und weitere Attribute, die Mime als eine gescheiterte, obdachlose Existenz definieren. Er hat sich in den Ruinen einer verfallenen industriellen Anlage niederge-lassen. Der Bühnenhintergrund zeigt einen dichten Wald, der den Blick auf den Horizont verdeckt und durch den ständig bedrohliche Nebelschwaden ziehen.

Als Wotan in der Gestalt des anonymen Wanderers die Wohnstätte Mimes betritt, weicht der Wald zurück und es schieben sich Mauern zwischen die Natur und der Werkstattgrube. Während der Zugang zum Wald mit einem zweiflügeligen Eisenschiebetor versperrt wird, fährt gleichzeitig, von einem Tuch verdeckt, ein Schmiede-hammer in die Werkstatt Mimes; ein Schmiedehammer, der deutlich jüngeren Datums ist, als das alte Schwungrad. Es ist die jüngste Maschinengeneration Wotans, und sie ist vorgesehen für Siegfried und sein Schwert. Der Wille Wotans, Weltbeherrschung durch Technik zu erlangen, erfährt an dieser Stelle der Tetralogie zum letzten Mal einen sicht-baren und direkten Ausdruck.

Das, was mit dem Auftritt Wotans als Wanderer im 1. Aufzug von "Siegfried" offen vorgeführt wird, nämlich, daß die Natur vor ihm und seinen Handlungen weichen muß, von Mauern und Maschinen in den Hintergrund verbannt wird, das läßt sich in den anderen Naturszenen ebenfalls beobachten. Die Lichtung, auf der Siegmund seinen Tod findet ("Walküre", II,2), ist ein geometrisch exaktes Oval, das wie ein von Menschenhand errichtetes Spielpodest leicht erhöht im umliegenden Wald positioniert wurde. Diese Lichtung ist eine künstliche Insel im Reich der Natur. Die gleiche Schein-Natur umgibt die Lichtung vor Fafners Höhle ("Siegfried", II). Rechts und links erkennt man Mauerteile, die andeuten, daß dieser Wald von Wotan künstlich angelegt wurde, um Siegfried in die von ihm gewünschte Richtung zu dirigieren. Der im Käfig gefangene Waldvogel - von Wotan selbst zu Beginn des Aufzuges in die Äste gehängt - ist das deutlichste Zeichen für die von Wotan gestaltete und mißbrauchte Natur. Wenn Siegfried losstürmt, Brünnhilde zu befreien, dann öffnet sich der Wald an genau der Stelle, an der zuvor die Ziegelmauern von Fafners Höhle standen. Verschlossen die Mauern im ersten Aufzug von "Siegfried" auf Veranlassung Wotans die Natur, so öffnen sie sich hier und geben den Blick und den Weg frei auf einen weit entfernten, hellen Horizont, an dessen Grenze der Walkürenfelsen liegt, ein Ort am Ende aller Wege.

Die Gestaltung des Walkürenfelsens ist deshalb besonders schwierig, weil er in drei Teilen des "Ring" insgesamt viermal zu sehen ist ("Walküre", III; "Siegfried", III; "Götterdämmerung", Vorspiel und I,2). Er erscheint dabei jeweils an dramaturgisch besonders exponierten Stellen im Handlungsgefüge der Tetralogie. Am Walkürenfelsen muß Wotan zweimal seinen Traum von der unbegrenzten Weltherrschaft aufgeben und auch Brünnhilde verliert an diesem Ort die Liebe und das Vertrauen Siegfrieds. Wotan begräbt das erste Mal ("Walküre", III) seine Tochter Brünnhilde im Feuerzauber - und damit die Freiheitsidee, die mit Siegmund verbunden war. Das zweite Mal ("Siegfried", III) zerschlägt Siegfried auf dem Weg zu Brünnhilde Wotans Speer und vernichtet damit endgültig Wotans Machtlegitimation; dem Gott bleibt nur noch, die Trümmer des Speeres zu nehmen und das Ende abzuwarten, die Götterdämmerung.

Auch dieses Bühnenbild der dramaturgischen Wendepunkte ist wilde Natur und von Menschenhand gestalteter Lebensraum zugleich. (50) Eine für Peduzzi geeignete Vorlage zur Gestaltung des Walkürenfelsens lieferte Arnold Böcklins Gemälde "Die Toteninsel", das der Bühnenbildner so beschreibt:

Ein enormer Steinblock, verloren inmitten eines Ozeans, eine häßliche, fleischfressende Pflanze, die selber von der Stille des Himmels und der Fluten verschluckt wird, unerbittlich auf Raubfang aus und bereit, sich nach jedem Beutezug wieder zu verschließen. Der Tod schien inmitten dieser verwunschenen Insel sein feuchtes und schattiges Königreich eingerichtet zu haben. (11,109)

Es stand für Peduzzi zu keiner Zeit zur Debatte, dieses Gemälde zu reproduzieren, aber der Ort, den er für den Walkürenfelsen gesucht hatte, war gefunden. Peduzzi baut ein Mauerwerk mit drei Seiten. Nach vorne ist der Felsen offen, an den Aussenseiten besteht er aus grob behauenen Felswänden, die jeweils am äußeren Ende der Einfriedung höher sind als hinten. In die Rückwand ist eine klassische Säule eingelassen, in die Seitenwände sind jeweils niedrige Türöffnungen geschlagen. Im Innenraum dieses Bollwerks aus zusammengerückten Felsteilen ziehen sich unterschiedlich hohe Podeste an den Wänden entlang. Sie stehen auf metallenen Bogenstellungen und sind mit Eisentreppen verbunden. Dieser ausgehöhlte Felsenraum, der an eine untergegangene Kirche oder an einen Tempelruine erinnert, steht frei in der Bühnenmitte, umgeben nur von einem weiten Rundhorizont, der die Isolation dieses Ortes noch zusätzlich verdeutlicht. Der Walkürenfelsen steht inmitten einer Einöde und ist ein Ort, in dem man Schutz sucht. Der Schutzsuchende, so Francois Regnault, ist in dieser Felseninsel "Wind und Feuer aus-gesetzt, Kälte und Gewitterstürmen, vor allem aber auch Blicken - denn sie ist ein Theater aus Stein" (11,108)

3.2.2 Die Kostüme

Die Kostüme dienen wie das Bühnenbild im besonderen Maße der äußeren Erscheinung und der optischen Präsenz eines Inszenierungsansatzes, der einem dramatischen Werk zugrunde liegt. Bevor in Aktion und Text Aussagen gemacht werden können, vermitteln Kostüme und Bühnenbilder entscheidende Kriterien zum Verständnis einer Inszenierung. Jacques Schmidt befolgt bei seiner Kostümgestaltung einen einfachen Grundsatz:

Dem Wort "Kostüm" [...] habe ich schon immer das der "Bekleidung" vorgezogen. Das Wort Kostüm beschwört nämlich, mehr oder weniger, den Gedanken an Verkleidung herauf. [...] Ich versuche, genau das Gegenteil zu machen, versuche das Alltägliche und das Gewöhnliche wiederzufinden. [...] Ich will Kostüme, die so wenig ungewöhnlich wie nur möglich sind. (Ring,111)

Drei Faktoren sind für Schmidt entscheidend, um den Eindruck von Verkleidung zu umgehen. Erstens sollte man seiner Meinung nach kein Kostüm auf dem Papier festlegen, ohne vorher den Sänger oder Schauspieler, der es später auf der Bühne tragen muß, gesehen zu haben. Sowohl die Entfaltung der Persönlichkeit auf der Bühne ist wichtig, als auch das Verhalten auf der Probe; selbst in der Kantine beobachtet Schmidt die Personen (11,112). Zweitens lehnt Schmidt den "Kostüm-Sakrophag" (ebd.) ab, das heißt, seine Kostüme müssen aufgeknöpft und ausgezogen werden können, selbst wenn das nicht vorgesehen ist. Detailtreue bis hin zur Unterkleidung und konsequente Funktionalität sind oberstes Gebot. Drittens, und das ist von größter Bedeutung, gehen Schmidt und Chéreau davon aus, daß "es niemals das Kostüm allein ist, [...] durch das ein theatralischer Effekt erzielt wird" (11,111). Alles in allem sind das Prinzipien, die mehr an die Kostümgestaltung beim Film, als im Theater erinnern.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor für das Erreichen der großen Geschlossenheit im Wechselspiel von Kostüm, Bühnenbild und Regie im "Ring" ist die Tatsache, daß Schmidt, Peduzzi und Chéreau seit vielen Jahren ein festes und eingespieltes Team sind, sie sich ihre Arbeit also nicht mehr umständlich gegenseitig erläutern müssen. Oftmals schlagen sie intuitiv den gleichen Weg zur Lösung szenischer Probleme ein. Wie für das Bühnenbild war deshalb auch für die Kostüme schnell eine generelle Richtung definiert und der Zeitabschnitt gefunden, in dem die Inszenierung stattfinden sollte.

Es würde sich im großen und ganzen um das Maschinenzeitalter handeln und Jules Verne sollte ein bißchen der Pate des Unternehmens sein. Wir würden etwa von der Zeit an ausgehen, in der Wagner begann, das Werk zu schreiben, das heißt ab 1850. (11,111)

Einige Kostüme gewannen innerhalb dieser Vorgabe sehr schnell konkrete Gestalt und änderten sich in der fünfjährigen Laufzeit der Inszenierung nicht, andere gewannen ihr endgültiges Aussehen - wie Teile des Bühnenbildes - erst im zweiten oder dritten Jahr. (51) Ausgehend von der oben erwähnten Epoche, durch die Jahreszahl 1850 provisorisch fixiert, erarbeitet sich Schmidt eine Dokumentation der bürgerlichen und alltäglichen Welt des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Einige Kostüme gehen auf ganz konkrete Quellen und Vorbilder zurück, andere sind fiktiv. Es soll im folgenden, geordnet nach Personengruppen, ein Überblick über die Kostüme gegeben werden.

Die Nibelungen. Das Kostüm Alberichs ist samt Dreispitz und Mantel die genaue Kopie der Tracht eines elsässischen Handwerksmeisters, deren sämtliche Details, wie etwa die Anzahl der Knöpfe, in einem Codex genau bestimmt waren. Mime ist der stets Geduckte und sich Versteckende im übergroßen und zerschlissenen Mantel, "der manchmal wie leer zu sein schien" (Schmidt. 11,115). Durch seine Nickelbrille ist er als kurzsichtiger Spezialist gekennzeichnet. Die Nibelungen werden von Kindern gespielt; sie tragen entsprechend der Bühnenbildvorlage Peduzzis Arbeitskleidung der Bergleute aus dem 19. Jahrhundert.

Die Götter. Im Rheingold präsentieren sich Wotan, Donner und Froh im barocken Stil. Sie tragen weite, aufwendig verzierte Brokatmäntel und Perücken des 17. Jahrhunderts, die an die Herrscher des anciem regime erinnern. Unter dem Erbstück aus der Feudalzeit trägt Wotan aber bereits einen dunkelbraunen Gehrock, das großbürgerliche Kostüm des 19. Jahrhunderts. Später, wenn Wotan beschließt, die Geschicke seiner Weltherrschaft in die eigene Hand zu nehmen ("Walküre", II,1), legt er den Brokatmantel, endgültig ab. Als Wanderer ("Siegfried") trägt er fast die gleiche Kleidung wie Alberich, nämlich weiten Mantel und Dreispitz; beide sind wie Zwillinge auf der Jagd nach dem verlorenen Ring. Den Speer allerdings, das mythologisch verbrämte Szepter seines Machtanspruches, behält er, bis Siegfried ihn zerschlägt ("Siegfried", III). (52)

Fricka, die Gattin Wotans und seine heimliche Mitregentin, trägt großbürgerliche Gesellschaftskleidung; sie ist eine grande dame der Salons im ausgehenden 19. Jahrhundert. Loge ist ein verkrüppelter Intellektueller, ein Außenseiter. Wotans unermüdlicher Vermittler zwischen Menschen- und Götterwelt ist ein stets fluchtbereiter Buckliger im hoffmannesken Frack, der einige Nummern zu klein ist. (53)

Erda und die Nornen, die welt-weisen Frauen. Erda sollte "von Anfang an eine Frau der Erde sein, eine Bäuerin ohne Geschlecht, eine jener Frauen ohne Alter und ohne Zeitgenossen, die etwas Geheimnisvolles an sich haben und Falten" (Schmidt. 11,114). Das Kostüm ist inspiriert von der Kleidung der Berber, mit einer Unzahl an Unterröcken, Tüchern und Schleiern. Erda ist, wie ihre Töchter, die Nornen, eine Gestalt aus einer fernen, unberührten Region, eine Stimme der Naturweisheit. Sie wirkt wie ein Fremdkörper im technisierten Machtbereich Wotans, der Welt der Industrie und Architektur. Die Nornen sind "Hexen oder sizilianische Bäuerinnen" (Schmidt. 11,116) und unter den Kapuzen ihrer weiten, schwarzen Kleider vollziehen sie fremdartige Rituale der Prophezeiung.

Brünnhilde. Ein langes, schlichtes Kleid in Dunkelgrau, darüber ein Brustpanzer aus dunkel schimmerndem Metall und ein Helm. So zeigt sie sich in der "Walküre". Brünnhilde ist keine kämpfende Heroine, sondern zu allen Zeiten ein unschuldiges Mädchen. Bei keiner anderen Person im "Ring" läßt sich die grundlegende Rollenanlage und die Gestaltung des Kostüms, das mehr Ideenträger als Bekleidung ist, so schwer trennen wie bei Brünnhilde. (54) Chéreau sagt zu dieser Figur:

Sie ist ein mutiges Mädchen, mutiger als Erwachsene es sein können, das seine Ideen und Ideale mit Nachdruck verteidigt. Ich verglich sie mit Cordelia und der Jungfrau von Orleans, und noch mehr als Jeanne d'Arc war sie Brechts Simone Machard, die die Deutschen zurückschlägt und davon träumt, die Jungfrau von Orleans zu sein, mit ihrem allzu großen Brustpanzer über ihrem Internatskleidchen. (11,63)

In der "Götterdämmerung" trägt Brünnhilde nicht mehr den Brustpanzer und das unschuldige Jung-Mädchenkleid, sondern ein übergroßes Gewand, dessen Saum über den Boden schleift und das Ärmel wie Riesenflügel hat, die sie niederziehen. Dieses Kleid ist ein exaktes Zeichen ihrer psychologischen Situation; ihre Idee von Freiheit und Liebe vermag sie nicht mehr auszufüllen, Ideal und Realität klaffen auseinander. (55)

Die Zerrissenen und die Außenseiter. Siegmund und Sieglinde sind Kinder, die fernab der Welt aufgewachsen sind. Ihre Bekleidung ist eine Mischung aus historischen Zitaten, romantischen Vorstellungen von ungezwungener Freiheit und psychologischen Zeichen. Siegmunds Kostüm charakterisiert den heimatlosen Rebellen als eine Mischung aus Handwerksbursche des 19. Jahrhunderts, Freiheitskämpfer oder Student der Revolution von 1848 und Mitstreiter im Kampf um die Amerikanische Unabhängigkeit. Sieglinde dagegen trägt in ihren Kleidungsstücken leidenschaftlichen Eifer und Sinnlichkeit offen zur Schau. Siegfried, das heimatlose Waisenkind, trägt eine improvisierte Findelkindkleidung aus Kleidungsstücken der Erwachsenenwelt. Deren auffälligstes Einzelstück ist ein verfilzter, dreckiger und zerrissener Wollpullover, "den er oder sein Ziehvater Mime aus der Müllkippe gezogen haben" (Schmidt. 11,115)

Die menschliche Herrscherelite. Gunter und Gutrune, die Machthabern der Gibichungenwelt, sind eindeutig Repräsentanten der Welt der Großindustriellen. Gunter trägt einen Smoking und Gutrune ein weißes Abendkleid. Ihre Bekleidung signalisiert, daß sie der Welt der Arbeit und der alltäglichen Verrichtungen weit entrückt sind. Hagen, der eigentliche Machthaber am Gibichungenhof, "der Zwitter, den man in guten Familien vor Besuchern versteckt" (Schmidt. 11,112), ist anders gekleidet: ein grauer Konfektionsanzug von der Stange, "abgetragen, unförmig und irgendwie alterslos" (ebd.). Er ist die graue Emminenz zwischen den herrschenden Industriellen und dem Volk der Arbeiter; Syndikus des Unternehmens und Gewerkschaftsboß in einer Person. Als Zeichen seines Machtanspruches hält er wie Wotan einen Speer in seinen Händen. Hagen, der Sohn Alberichs, ist in der "Götterdämmerung" das negative Spiegelbild des Gottes. (56) Als Siegfried in diese Welt der Macht und des glamourösen Scheins eindringt, wird auch er in einen Smoking gesteckt und von Gutrune wie ein Renommierheld dem Volk vorgeführt. Seine Findelkindkleidung, die zugleich die Kleidung seiner Jugend und seiner Freiheit war, streift Siegfried ein letztes Mal über, als er mit Gunter und Hagen auf die Jagd geht; eine Jagd, deren einzige Beute er selbst wird.

Das Volk der Gibichungen. Diese Menschenmenge ist ein Querschnitt durch alle Zeiten und Schichten der modernen Arbeitswelt. Stilrichtungen aus ungefähr einem Jahrhundert vermischen sich; Werkspolizisten mit Karabinern neben Arbeitern mit Speeren, kleine Mädchen in ärmlicher Bettlerkleidung neben Frauen in Gouvernanten-kleidern der Jahrhundertwende, Maschinisten in blauer Drillich-kleidung neben Büroangestellten in abgewetzten Anzügen. Diese Volk überlebt die Feuersbrunst der "Götterdämmerung" und wendet seinen Blick am Ende des "Ring" ratsuchend ins Publikum. Um den Eindruck einer Bevölkerung, nicht einer Miliz oder Armee zu erwecken, legt Schmidt Wert darauf, daß keine gleichen Kostüme zu sehen sind: "Für mich genügen drei identisch gekleidete Chorsänger auf der Bühne, um jegliche Wahrscheinlichkeit abzuwürgen" (11,115).

Wie läßt sich nun das beschriebene szenische System, das nur noch wenig mit Wagners germanischer Mythen- und Sagenwelt und den im Text verankerten szenischen Anweisungen zu tun hat, und das deshalb die heftigste Kritik hervorrief, wie läßt sich also dieses szenische System, das Chéreau, Peduzzi und Schmidt aufbauen, mit Wagners "Ring" in einen übergeordneten Zusammenhang bringen?

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(47) "In meiner Vorstellung lag hinter dieser Wand ein Haufen voller Leichen. Cosima berichtet in ihren Tagebüchern, daß Wagner eines Tages zu ihr gesagt hatte: 'Diese Götter sind Raubtiere.'" (Peduzzi. 11,109) (zurück)

(48) Ein abgestorbener Zwillingsbaum und eine versiegende Quelle im Hof dieses Gebäudes machen die Vergewaltigung der Natur noch deutlicher. Gleichzeitig dienen sie als Zeichen für Sieglindes innere Verfassung. Bei "Winterstürme wichen dem Wonnemond", also der Vereinigung von Sigmund und Sieglinde, teilt sich die Fensterfront und schiebt sich zur Seite. Der Blick auf die hereinbrechende Natur wird frei. (zurück)

(49) Bei der Gestaltung des Bergwerkes von Nibelheim bezog sich Peduzzi auf Stiche von Industrieanlagen des 19. Jahrhunderts. "Nibelheim war ein Granitsteinbruch mit einer eingebauten Treppe aus Metall. Dieser riesige Block wurde gestützt durch eine Reihe von Ziegelsteinpfeilern, die aussahen, als habe sie das Gewicht des Felsens schon zerdrückt. [...] Um es kurz zu machen: Ich gab ein Bergwerk wieder, wie man es auf den Stichen in der 'Encyclopédie' von Diderot und Alembert sehen kann" (Peduzzi, 11,104) (zurück)

(50) Wie Walhall fand auch der Walkürenfelsen seine endgültige Gestaltung erst im Jahr 1977. (zurück)

(51) Ich gehe auch in der Beschreibung der Kostüme von der letzten Fassung des "Ring" aus, also der Stand der Inszenierung, der mit der Fernsehauffzeichnung festgehalten und dokumentiert wurde. (zurück)

(52) Außerdem wollten Schmidt und Chéreau erreichen, daß Wotan Ähnlichkeiten mit Prinz Salina aus Viscontis Film "Der Leopard" bekommt. Und auch der von Peduzzi konstruierte Innenraum Walhalls ("Walküre", II,1) sieht wie ein sizilianischer Palastraum aus, der aus Viscontis Film herübergeholt wurde. (vgl.: 11,112) (zurück)

(53) Schmidt bezeichnet Loge auch "als eine Art englischen Clown im zu kurzen Frack und mit Klumpfuß" (11,115). Chéreau zitiert in der Figur Loges seine Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen" in Paris. (zurück)

(54) Chéreau hebt immer wieder hervor, daß zu dieser glücklichen Verbindung Gwyneth Jones, die von 1976 bis 1980 die Sängerin und vor allem die Darstellerin der Brünnhilde war, nicht unwesentlich beigetragen hat. (zurück)

(55) Regnault beschreibt sie in der Szene, in der sie von Gunter wider ihren Willen in den Herrschaftsbereich der Gibichungen gezerrt wird, mit den Worten Baudelaires über den Albatros: "Auf den Boden verbannt, von Hohngeschrei umgeben, hindern die Riesenflügel seinen Gang." (Vgl.: Francois Regnault, "Porträt der Gwyneth Jones als Albatros" (11,113f.)) (zurück)

(56) Schmidt bezieht sich unter anderem auch auf frühere Inszenierungen Chéreaus: "Es gab natürlich auch Bezüge zu 'La Dispute' von Marivaux [...]. Siegmund und Siegline waren Kinder die fern von der Welt aufgezogen wurden, und Gunter und Gutrune konnten dem Prinzen und Hermiane gleichen, ebenso aber auch diesen Königspaaren auf Staatsbesuch, wie man sie auf Titelbildern der Illustrierten sieht, oder auch Hollywood-Stars, wie etwa Fred Astaire und Ginger Rogers" (11,112). (zurück)