Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

2.3 Chéreaus Weg nach Bayreuth

Chéreaus Weg nach Bayreuth und zu Wagners "Ring" - am Anfang dieses Kapitels lediglich angerissen - soll an dieser Stelle etwas vertieft werden. Er kann gewissermaßen zweifach nachvollzogen werden. Der erste Weg führt über eine innere Verwandtschaft der Einstellungen Wagners und Chéreaus zum Verhältnis von Kunst und Revolution, der zweite über eine äußere Entwicklung des Theaters nach 1968, in deren Verlauf eine Renaissance des "Ring" möglich wird. Patrice Chéreau sagt über Richard Wagner:

Mir scheint, Wagner war zuerst versucht eine politische Revolution zu machen. Aus dieser Revolution wurde dann aber nur ein Revolutionieren der Kunst [...]. Er entdeckt zu einem gegebenen Zeitpunkt die Macht und Ohnmacht seiner Kunst - und er entdeckt die Macht, die ihm erwachsen kann, wenn er seine Ohnmacht erkannt hat, durch die Kunst nichts anderes als die Kunst selbst verändern zu können. (11,120)

Der erste Teil meiner Arbeit hat mit der Erläuterung der "Zürcher Kunstschriften" gezeigt, daß Chéreaus Vorstellung vom Weg Wagners als einer Passage von der Revolution der Gesellschaft zur Revolution der Kunst richtig ist. Gleichermaßen interessant aber ist, daß Chéreaus eigener künstlerischer Werdegang genauso beschrieben werden könnte. (33)

Kann man für Wagners Ästhetik und die daraus resultierende "Ring"-Konzeption das Jahr 1848 als Fluchtpunkt annehmen, so ist für Chéreau das Jahr 1968 von ähnlicher Bedeutung. Die Studentenrevolten dieses Jahres beabsichtigen, so Chéreau, die alten Vorstellungen der Nachkriegsgeneration zugunsten einer neuen Gesellschaft zu beseitigen. Anläßlich der Besetzung des Nationaltheaters in Paris stellt Chéreau gleichzeitig fest, daß der Forderung der Studenten, das Theater der Revolte anzunähern und den Arbeitern zu öffnen, mit Skepsis zu begegnen ist. Ein Künstler, so Chéreaus Argumentation, kann nur für sich selbst engagiert sein, in seiner eigenen Haltung wahr sein, er kann aber nicht ein fremdes Engagement zeigen.

Was damals auf der Straße geschah war Theater. Ich mache aber selbst Theater, ich brauche die Straße nicht. Alles, was ein Regisseur, ein Schauspieler macht, ist nur Theater. Wenn die Revolte ehrlich sein soll, dann muß man auf die Straße gehen, in den ideologischen Kampf. (34)

Mit der Erkenntnis, daß sich Kunst und Revolution nicht gleichsetzen lassen, trennt sich Chéreau Ende 1968 vom direkt engagierten Theater, ohne sich freilich von den Ideen des Mai 1968 zu verabschieden - das Verhältnis von Intellekt, Theater und Revolte bestimmt noch immer seine Arbeit, er ändert lediglich die Form der Verkündung. Auch Richard Wagner verwarf die Ideen und Ideale des Dresdener Aufstandes aus dem Jahr 1848 nicht, sondern verarbeitet sie in einer ihm, dem Künstler, angemessenen Form; es entsteht in mühsamer und langer Arbeit "Der Ring des Nibelungen". Es ist bezeichnenderweise dieses Drama, mit dem sich in den frühen 70er Jahren, nach den Unruhen von 1968, viele junge Regisseure besonders unter ideologischen und politischen Gesichtspunkten beschäftigen. Dafür liefert Günther Erken folgende Erklärungsmöglichkeit:

Die Renaissance des "Ring" seit 1970 wurde denkbar als eine Fortsetzung bzw. Ablösung der europäischen Königsdramen-Renaissance seit 1965, die unter anderem gleichsam einen stofflichen Ersatz bot für den fehlenden politischen Allegoriker, einen Brecht der sechziger Jahre. (21,221)

Die von Erken beschriebenen Stationen, die zur Renaissance des "Ring" führen, legen in nuce eine Entwicklung des Theaters dar, an deren Ende eine neue Qualität des politischen Engagements auf der Bühne steht. Impliziert wird dabei, daß es unter den Autoren der 60er und 70er Jahre keinen gibt, der politische Aktualitäten mittels allegorischer Darstellung vermitteln kann. Erken geht es offensichtlich nicht nur primär um die politische Aktualität, sondern auch um die Möglichkeit, das vorhandene Dramen-Repertoire vergangener Jahrhunderte in die sich verändernden politischen Ansichten einzubeziehen. Die größte Überraschung ist dabei, daß gerade Regisseure des Sprechtheaters Wagners Werk in dieses Repertoire einordnen. Wagners Werk wird so der übrigen Dramenliteratur gleichgesetzt, und die Regisseure schließen mit dem "Ring" die von Literaturwissenschaftlern oft beklagte Lücke zwischen Hebbel und Hauptmann.

Die Literaturwissenschaft kann das Fehlen wahrhaftiger Dramenliteratur in dieser Epoche jedoch nur beklagen, weil sie Wagners "Ring"-Text meist wissendlich übersah. Andererseits galt aber gerade Oper bislang in Kreisen junger Theaterschaffender, besonders bei denen, die sich der linken Ideologie verpflichtet fühlten, als höchste Ausprägung bürgerlicher Schau-Lust und Selbstdarstellung. Mit Wagners "Ring" bemächtigt man sich nun auch des Musiktheaters, um mit eben diesem Objekt bürgerlichen Theaters gegen dasselbe vorzugehen. Erleichtert wurde dieser Schritt nicht zuletzt durch die Rehabilitation und Anerkennung Richard Wagners als Revolutionär von 1848 in der Wagnerforschung selbst.

Patrice Chéreau ist ein typischer Vetreter dieser Gruppe von Regisseuren. Die von Erken kurz zusammengefaßte Entwicklung des Theaters läßt sich im Inszenierungsverzeichnis Chéreaus nachverfolgen. Im Gespräch mit Günther Rühle gibt Chéreau in der biographischen Erkundung nicht das Schultheater, sondern ein Gastspiel des Berliner Ensembles in Paris als auschlaggebendes Moment für seine Theaterlaufbahn an. Freilich: Er hat nie ein Stück Brechts inszeniert, weil ihn "das Zuviel an Rationalismus" (35) davon abhielt, und doch sind Chéreaus Inszenierungen von Brecht geprägt. "Auch Chéreau sucht nach der Fabel und müht sich, Vorgänge zu inszenieren, die durchsichtig sind für Erkenntnis" (Rühle) (36).

Es ist Shakespeares "Richard II.", den Chéreau 1969 im Anschluß an die beschriebene Abkehr von der Revolution inszeniert, ohne die Ideen des Mai-Aufstandes des Vorjahres zu verleugnen. Er selbst spielt die Titelrolle und zeigt einen Intellektu-ellen, der die Welt säubern möchte, aber nicht kann. Er ist König und Mächtiger und doch ohnmächtig, "ein Bub, dem man sein Spielzeug kaputtgemacht hat" (Chéreau) (37).

Anfang 1972 inszeniert er Wedekinds "Lulu" und erklärt das Leben der Titelfigur aus den Bedingungen ihrer Behandlung, bei anderen Männern wäre es anders verlaufen: Chéreau durchleuchtet kritisch die soziale Dimension des Dramas und zeigt "Realpolitik in der Realpsychologie". Zur gleichen Zeit gelingt Peter Stein an der Berliner Schaubühne mit Ibsens "Peer Gynt" ein ähnlicher Aktualisierungsvorgang, auch dort wird ein schon fast verworfenes Stück für die Gegenwart neu geöffnet. Der Deutsche Peter Stein und der Franzose Patrice Chéreau vollziehen ihre Wandlung zur gleichen Zeit, den Wandel vom "engagierten Theater der action directe" zu einem Theater, das die "ganzen sinnlichen Reize der Theaterkunst" (38) wiederherstellt, ohne dabei Brüche in der Tradition und Unvereinbarkeiten von Gegenwart und Vergangenheit zu verdecken. (39)

In loser Assoziation - also weder vollständig noch objektiv - lassen sich zu diesem Theater der sinnlichen Reize und der politischen Auseinandersetzung auch die folgenden Regisseure und ihre Arbeiten der 70er Jahre addieren: Peter Zadek (mit Shakespeare, Schiller, Wedekind), Hansgünther Heyme (Schillers "Wallenstein") und Claus Peymann (Shakespeare, Schiller, Goethe).

Auch die beiden letzten Arbeiten Chéreaus vor seinem Bayreuther "Ring" stehen unter dem angesprochenen Aspekt. "La Dispute" von Mariveaux und "Lear" von Edward Bond bedienen sich einerseits eines lehrstückhaften Charakters, der der Demonstrationstechnik Brechts nicht unähnlich ist, und andererseits sind sie bestimmt vom Eindringen und Horchen in die menschliche Psyche, das der Seelenanatomie und Psychopathologie der Shakespeareschen Tragödien verwandt ist. Auf dem gleichen Weg nähert sich Chéreau der Oper. Wenn er in Paris "Hoffmanns Erzählungen" von Offenbach nicht - wie üblich - als bunt und opulent ausgestattetes Liebesmärchen erzählt, sondern sich auf E.T.A. Hoffmann bezieht und dessen Nachtstücke der Romantik auf die Bühne projeziert, dann ist das ein Versuch, das Musiktheater in die Entwicklung der dramatischen Literatur zu integrieren und gegen alle Konventionen in der Oper auch psychologische und sozial-gesellschaftliche Fragen aufzuwerfen und beantworten zu wollen.

Methodisch und formal deuten diese Inszenierungen alle bereits auf Chéreaus Bayreuther "Ring" hin, der auch von seiner Haltung gegenüber dem Verhältnis von Kunst und Revolution, das dem von Wagner fast gleich ist, nicht unbeeinflußt bleibt.

Als Chéreau die Ohnmacht der Kunst im politischen Bereich zu erkennen begann, erschloß er sich langsam die Macht der Darstellenden Kunst und die Phantasie ihrer Betrachter; die Macht in der Ohnmacht des Schönen. (Rühle) (40)

Das Erkennen der Ohnmacht der Kunst im politischen Bereich als Macht im Bereich der Phantasie und des Phantastischen, das ist die gleiche Macht und Ohnmacht, von der Chéreau im Bezug auf Wagner spricht. Auf Grund dieser politisch-ästhetischen Verwandtschaft mit Wagner und der Entwicklung seines bisherigen Inszenierungsstils kann Chéreau in seiner "Ring"-Konzeption den Abstraktionismus der 50er Jahre nicht gutheißen, aber ebensowenig eine plumpe politische Umsetzung, die sich etwa vordergründig auf G.B. Shaws Thesen stützt. Über die sagt Chéreau: "Sie erscheinen mir unzureichend, ein bißchen laienhaft in ihrer politischen Schlußfolgerung, und sie führen nicht sehr weit" (11,127).

Möglich ist für Chéreau ein imaginäres 19. Jahrhundert, das zugleich eine Allegorie unserer Zeit ist. Chéreaus "Ring"-Inszenierung, das werden die folgenden Betrachtungen zeigen, verleugnet dabei weder den mythischen, noch den politischen Charakter des Werkes.

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(33) Die folgenden Ausführungen stützen sich auf: Günther Rühle, "Macht und Ohnmacht des Schönen. Notizen nach einem Gespräch mit Patrice Chéreau." In: FAZ, Frankfurt. 16.10.1976 (zurück)

(34) ebd. (zurück)

(35) ebd. (zurück)

(36) ebd. (zurück)

(37) ebd. (zurück)

(38) ebd. (zurück)

(39) Die Wege dieser beiden Regisseure kreuzen sich später erneut. Beide arbeiten zur gleichen Zeit am "Ring": der Franzose in Bayreuth, der Deutsche, der die Verpflichtung in Bayreuth nicht eingehen wollte, in Paris. (zurück)

(40) Rühle, "Macht und Ohnmacht des Schönen", a.a.O. (zurück)