Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

EINLEITUNG

Richard Wagner ist auch heute noch als Gegenstand von Diskussionen und Ressentiments lebendig. Bei kaum einem anderen Künstler liegen Anerkennung und Ablehnung so eng beieinander. Richard Wagner war ein Künstler des 19. Jahrhunderts. Doch sein Werk, in dem sich Leben, Denken und Handeln bis zur Untrennbarkeit verzahnen und das als ein Traum vom allumfassenden Kunstwerk betrachtet werden kann, ragt weit in unser 20. Jahrhundert hinein. Die von Wagner in aller Konsequenz entwickelte pathetische Kunstform aus Idealismus, Ideologie, Religionsersatz und Großer Oper stellte zu allen Zeiten eine immense Herausforderung für unzählige Interpreten dar. Der Strom des Zitierens und Kommentierens reißt dabei nicht ab. Eine Feststellung von Klaus Umbach ist daher ebenso gültig und zutreffend wie trivial: "Generationen haben sich an ihm und allem, was er aus- und angerichtet hat, mit kultischer Lust die Finger Wund geschrieben" (44,12). Ganze Bibliotheken lassen sich füllen, und glaubwürdige Schätzungen gehen davon aus, daß Wagner hinter Christus und vor Luther, Hitler und Goethe Platz zwei belegt. (1) In dieser Flut von Sekundärliteratur halten sich Zuspruch und Widerspruch eigentümlich die Waage. Gemeinsam aber ist allen Interpreten - Befürwortern wie Gegnern - eine intensive, persönliche und zuweilen kämpferisch-dogmatische Haltung gegenüber Wagners künstlerischem Schaffen und dem, was im Lauf des vergangenen Jahrhunderts daraus gemacht wurde. Es liegt nicht in meiner Absicht, mit dieser Arbeit die bisher geleistete und dabei oft widersprüchliche Gedankenarbeit in aller Genauigkeit nachzuvollziehen und zu kommentieren, denn der eng gesteckte Rahmen einer Magisterarbeit erfordert Beschränkungen. Die Einschränkungen, die ich vorgenommen habe, lassen sich im Titel nachvollziehen.

DER RING DES NIBELUNGEN. Bayreuth 1976 - 1980
Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau
und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

Im Grunde genommen ist meine Arbeit bestrebt, sich der immer noch aktuellen Wirkung im Werk Wagners in zwei voneinandder unabhängigen Teiluntersuchungen zu nähern. Zum einen soll der „Ring des Nibelungen“, unbestritten Wagners Hauptwerk, in einer exemplarischen Inszenierung untersucht werden und zum anderen soll eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk versucht werden. Vorab einige Feststellungen zu den Kriterien der Auswahl.

Eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk: Von den meisten Menschen wird mit Richard Wagner unweigerlich der Begriff des Gesamtkunstwerkes verbunden. Doch das Gesamtkunstwerk ist keine Idee Richard Wagners, sondern im wesentlichen eine Idee des Kunstwollens im 19. Jahrhundert, ein theoretisches Gebilde, das sich einer eindeutigen Definition entzieht. Falsch ist es, unter Gesamtkunstwerk lediglich die multimediale Verbindung verschiedener Einzelkünste zu sehen. Das Gesamtkunstwerk ist vielmehr der Versuch, eine Ganzheitsvorstellung vom Leben (der Gesamtwirklichkeit) in ein künstlerisches System einzukleiden. Wagner war nur einer von vielen Künstlern, die eine solche Ganzheitsvorstellung in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellten. Neben Wagners Kunstschriften, die als sein Entwurf einer Ästhetik zu verstehen sind, sollen im ersten Kapitel meiner Arbeit auch Texte von Interesse sein, die grundlegende, das heißt von bestimmten Künstlern und Kunstwerken losgelöste Annäherungen an das Phänomen Gesamtkunstwerk versuchen.

Die drei „Zürcher Kunstschriften“ (2) Wagners sind, um eine Formulierung Thomas Manns zu benutzen, „ästhetiche, kulturkritische Manifeste und Selbsterläuterungen, - Künstlerschriften von erstaunlicher Gescheitheit und denkerischer Willenskraft“ (35,77). „Die Kunst und Revolution“ (1848) formuliert die geschichtsphilosophischen Grundlagen des kunsttheoretischen Entwurfs Wagners, der insgesamt stark von den Ereignissen der Revolution 1848/49 in Dresden geprägt ist. „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850) entfaltet in diesem Rahen die eigentliche ästhetische Theorie des Gesamtkunstwerkes als Verbindung von Kunst und Leben. „Oper und Drama“ (1852) konkretisiert dann diese Theorie in der Ästhetik des Musikdramas.

Stellt man im Zusammenhang mit dem Theater Richard Wagners die Frage nach dem Gesamtkunstwerk, so ist eine genaue Darstellung der Kunstschriften unumgänglich, die man als „bedeutenden Beitrag der ‚Hegelschen Linken‘ zu Fragen der Ästhetik bezeichnen kann“ (Kühnel. 31,498). Dieser Darstellung der theoretischen Schriften Wagners und der Annäherung an eine Definition des Begriffes Gesamtkunstwerk wird Kapitel 1 meiner Arbeit gewidmet.

„Der Ring des Nibelungen“: Wagner hat sein „Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend“ parallel zu den Kunstschriften entwickelt. Anders als zuvor in „Lohengrin“ und „Tannhäuser, in denen die zentralen Hauptfiguren an ihren eigenen Bedingtheiten scheitern, geht es Wagner im „Ring“ auch um das Umfeld und die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Menschen leben. Das hängt zusammen mit den Kunstschriften und deren Bezug zu den sozialpolitischen Träumen und Utopien, die mit dem Ende der Revolution zerplatzen. Wagners Wendung von Lohengrin zu Siegfried ist die vom unpolitschen Künstler zum politischen Menschen. Wagner verarbeitet im „Ring“ seine Sicht auf das 19. Jahrhundert; es ist seine „summa artium saeculie“ (C. Schmid. 38,397). Wagners Sagenkonglomerat ist kein zeitloses Märchen, sondern ist eindeutig als Mythos seiner Zeit formuliert, ist eine Vermischung von Mythologie und Ideologie. George Bernard Shaw sah als erster hinter dem germanisierenden Mummenschanz, zu dem der „Ring“ Ende des vorigen Jahrhunderts gemacht wurde, die politische Allegorie des Revolutionärs Wagner. (3) Doch erst 70 Jahre nach Shaw findet diese Ansicht Eingang auf die Bühnen. Dort steht sie allerdings nicht allein. Eine Vielzahl von Erklärungsmodellen findet - mehr oder weniger gerechtfertigt - Anwendung auf den „Ring“. Von je her entzieht sich dieses heterogen Werk einer eindeutigen Interpretation. Es ist in der Bandbreite der Möglichkeiten Shakespeares Königsdramen und Goethes „Faust“ ebenbürtig, die Wagner übrigens sehr hoch schätzte.

Von Anfang an ist mit der Konzeption des „Ring“ auch eine Absage an die herkömmliche Theaterform verbunden. Wagner plant Festspiele in einem eigens dafür errichtetem Theater mit freiem Eintritt für alle Besucher. Mit den ersten Bayreuther Festspielen 1876 kann Wagners hoher Anspruch allerdings nicht eingelöst werden. Zu viele Konzessionen, vor allem fianzieller Art, mußte er eingehen. Dennoch sind die Bayreuther Festspiele gerade seit den 50er Jahren und - unter etwas anderem Gesichtspunkt - seit den 70er Jahren dieses Jahrhunderts wieder zum geographischen Zentrum und Brennpunkt der engagierten und couragierten Wagnerinterpretation geworden. Kapitel 2 meiner Arbeit liefert dazu einen knappen Überblick.

Die „Ring“-Inszenierung Patrice Chéreaus: Bayreuther Festspiele 1976. Gefeiert wird das 100-jährige Jubiläum. Doch die Inszenierung des französischen Teams bestehend aus Patrice Chéreau (Regie), Pierre Boulez (musikalische Leitung), Richard Peduzzi (Bühnenbild) und Jaques Schmidt (Kostüme) wird Anlaß eines handfesten Skandals. Es kommt zu Schlägereien, es werden Flugblätter verteilt und Unterschriftenlisten gegen die Inszenierung ausgelegt. Zahlreiche Altwagnerianer formieren sich zu einer „Bürgerinitiative, die für ein zukunftsorientiertes Verständnis des Wagnerschen Werkes“ eintritt und nachdrücklich „Werkschutz für Wotan fordert“ (Faerber. 22,74).

Just zum Jubeljahr [...] hatten sich die Konservativen wohl eine Art musikalisches Burgtheater erwartet: würdig und langweilig. Nun war es - scheinbar - respektlos und sicher unterhaltsam. Dem Altgedienten verging Hören und Sehen. (4)

Fünf Jahre später erfährt die öffentliche Meinung über Chéreaus „Ring“ eine komplette Kehrtwendung. Mit einem selbst für Bayreuther Verhältnisse überschwänglichen Applaus von 90 Minuten Länge und der beeindruckenden Zahl von 101 Vorhängen wird die Inszenierung verabschiedet. Festspielleiter Wolfgang Wagner bezeichnet die Arbeit Chéreaus als „eine für Bayreuth bedeutsame Phase des festspielgeschehens und im weiteren Sinne von Theatergeschichte“ (11,9).

Chéreau folgt in seiner Inszenierung konsequent einer Interpretation, die sich aus der sozialpolitischen Summe der Kunstschriften Wagners und dem „Ring“ als Kommentar des 19. Jahrhunderts ergibt. Dabei überzieht er das Werk keineswegs vorschnell und unreflektiert mit linker Ideologie. Dieser Vorwurf könnte eher Joachim Herz gemacht werden, der nur kurz zuvor in Leipzig einen „Ring“ rein im Geiste Shaws inszenierte. Für Chéreau ist der „Ring“ Wagners Versuch, einer Epoche ihr mythologisches Fundament zu geben und dabei gleichzeitig die Gesinnung dieser Epoche einzufangen. Das Werk wird im Gewand der Allegorie zum Mythos des industriellen Zeitalters, ein durch Sagen gefiltertes 19. Jahrhundert. So bekommt die Bezeichnung „Jahrhundertring“ einen ernst zu nehmenden Doppelsinn. Der Inszenierungstil entspricht dieser Mehrschichtigkeit. Bildelemente aus verschiedenen Epochen und Stilrichtungen werden zitiert und kombiniert. Dabei bleiben erregende Bilder und eine in Oper nie dagewesene Personenregie im Gedächtnis. Kapitel 3 meiner Arbeit versucht, die wesentlichen Merkmale und Aussagen der Inszenierung Chéreaus abzuleiten und zu betrachten.

Die Frage, wie sich nun die Annäherung an das Gesamtkunstwerk und die Betrachtung der Inszenierung im Sinne einer Synthes verbinden lassen, kann ich im Rahmen dieser Magisterarbeit sicherlich nur anschneiden. Eine vollständigere Untersuchung dieses Problems könnte jedoch Aufgabe für folgende Arbeiten sein. Kapitel 4 schneidet folglich die Verbindung der beiden unabhängigen Teiluntersuchungen zur Wirkung des Werkes Wagners nur an. Mehr als ein thesenhafter „Versuch einer Summe“, so der Titel des letzten Kapitels kann im Rahmen dieser Arbeit nicht gegeben werden.

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(1) Schon 1895, zwölf Jahre nach Wagners Tod, sind in einem Katalog zu einer Richard-Wagner-Bibliothek bereits 10.180 Nummern aufgeführt. (zurück)

(2) Es hat sich eingebürgert Wagners Kunstschriften als „Zürcher Kunstschriften zu bezeichnen, obwohl dies nicht völlig exakt ist. Denn zumindest die ersten beiden der drei Schriften wurden bereits in Dresden, also vor der Revolution von 1848 und der damit verbundenen Flucht ins schweizerische Exil, konzipiert und zum Teil auch niedergeschrieben. (zurück)

(3) Shaw bezeichnet in „The Perfect Wagnerite“ (1898) denjenigen als Dummkopf, der erklärt, „das Rheingold sei doch völlig und ausschließlich das, was man ein ‚Kunstwerk‘ nennt, und Wagner habe niemals [...] von industriellen und politischen Problemen aus sozialistischer und humanitärer Sicht geträumt“ (41,51). Die historischen Fakten der Biographie Wagners widerlegen eine solche Behauptung klar und geben somit Shaw durchaus Recht. (zurück)

(4) Aus: N.N., „Der neue ‚Ring‘ in Bayreuth“. In: DER SPIEGEL, Hamburg. Nr 32 vom 2. August 1976 (zurück)