Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

1.2 Die ästhetische Theorie Richard Wagners

1.2.1 Die Revolution

Welche Rolle der junge Kapellmeister Richard Wagner im einzelnen bei den Barrikadenkämpfen im Mai 1849 in Dresden gespielt hat, ist nicht eindeutig zu klären. Fest steht aber, daß das Gedankengut der Revolution Wagners Werk nachhaltig beeinflußt hat und sowohl in den Schriften, als auch in den Dichtungen dieser Zeit seine Spuren hinterließ. "Er war ein Kind der Revolution und des Aufruhrs, was wir nicht vergessen sollten" (Gregor-Dellin. 26,3). Die Wagner-Forschung trat über Jahre hinweg einer Politisierung des Gegenstandes ihres Interesses entgegen: "Ihr galt's der Kunst" (Krohn: 30,86).

Mittlerweile ist es keineswegs mehr umstritten, daß Wagner an den Unruhen im Mai 1849 Anteil nahm. Wagner selbst verleugnete zu keiner Zeit seine Beteiligung an der Revolution, spielt seine Rolle aber in der Autobiographie "Mein Leben" herunter. Strittig bleiben dagegen die Motive, die ihn zu revolutionärer Aktivität trieben. Wie so oft bei Wagner vermischen sich private Ziele und äußere Umstände untrennbar und es scheint, "als habe er das Soziale gar nicht zur Politik gezählt, sondern es für sein eigenes, wiewohl bedeutendes Gebiet menschlicher Betätigung gehalten" (Gregor-Dellin. 26,3).

Ohne Wagners Beteiligung an der Revolution verharmlosen zu wollen, muß berücksichtigt werden, daß Wagners Besessenheit von sich selbst und die damit verbundene Idee einer neuen Kunst, sein enormer Behauptungswille, sowie die wirtschaftliche Not des Kapellmeisters - "das eigentliche mephistophelische Thema seiner Dresdner Jahre war das Geld" (Gregor-Dellin. 27,209) - entscheidenden Anteil am Revoltieren des Künstlers hatten. Er fand ein Ventil für aufgestaute Ressentiments privater Natur. Von August Röckel, dem Wagner eine Anstellung als Musikdirektor am Hoftheater besorgt hatte, und der die Juli-Revolution in Paris (1830) selbst miterlebt hatte, mit Lasalle, Lafitte und anderen Köpfen der Reformbewegung persönlich bekannt war und sich intensiv mit deren sozialen Reformtheorien auseinandersetzte, dürfte Wagner, in dessen Bibliothek sich bis dato kein politisches Buch befand, die entscheidenden "sozialutopischen und revolutionären Denkanstöße" (Gregor-Dellin. 26,26) erhalten haben.

Im Freundeskreis um Wagner und Röckel waren Schriften wie etwa Proudhons "Was ist Eigentum?" (1840), Weitlings "Evangelium des armen Sünders" (1843), Feuerbachs "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" (1843) und "Das Wesen der Religion" (1845), Stirners "Der Einzige und sein Eigentum" (1845) Gegenstand der Diskussionen und auch über Karl Marx dürfte im Zusammenhang mit Proudhon gesprochen worden sein. In "Mein Leben" gibt Wagner die Beweggründe wieder, die seiner Meinung nach Röckel zum Sozialisten gemacht haben könnten.

Schon längst hatte er jede Hoffnung aufgegeben, [...] seine musikalische Laufbahn war für ihn zum reinen Frondienst geworden, [...] so schleppte er sich elendig im Schuldenmachen dahin. Auf unseren Spaziergängen unterhielt er mich [...] einzig mit der Ausbeute seiner Lektüre von volkswirtschaftlichen Büchern, deren Lehren er mit Eifer auf die Verbesserung seiner verschuldeten Lage anwendete." (ML, 377)

Wagner unterstellt Röckel also private, egoistische und höchst unpolitische Motive, die seinen Freund und Kollegen bestärkten, "die Umgestaltung aller bürgerlichen Verhältnisse [...] aus einer vollständigen Veränderung ihrer sozialen Grundlage" (ML,386f.) zu fordern. Aber bei genauer Betrachtung stellt sich Wagners persönliche Lage nicht anders dar als die seines Freundes. Seine Finanzen waren in höchst desolatem Zustand, und durch Spekulationen auf den Verkauf seiner Opernpartituren manovrierte sich Wagner noch tiefer in die wirtschaftliche Misere. Zwar gewährte ihm die Hofintendanz eine Gehaltserhöhung, doch knüpfte man an diese - nach Wagners Urteil - erniedrigende Bedingungen, so daß er sich vom dekadenten Hoftheater und dessen Publikum in seiner künstlerischen Entwicklung beschnitten sah.

Verständlicherweise zeigte sich Wagner den republikanischen Strömungen der Zeit durchaus offen, als die Nachrichten von der Proklamation der Republik in Paris (Februar 1848) Dresden erreichten. Doch erst nach der endgültigen Beendigung der "Lohengrin"-Partitur, am 28. April 1848, fand er "Muße, sich etwas nach der Strömung der Ereignisse umzusehen" (ML,375).Bezeichnend für Wagner ist allerdings der Umstand, daß er sich im Rückblick deutlich von Röckel und dessen Einstellung zur Revolution distanzierte:

Auf die Proudhonschen und anderer Sozialisten Lehren von der Vernichtung der Macht des Kapitals durch unmittelbar produktive Arbeit baute er [Röckel] eine ganz neue moralische Weltordnung auf, für welche er mich allmählich [...] insoweit gewann, daß ich nun wieder meinerseits darauf die Realisierung meines Kunstideals aufzubauen begann. (ML, 387)

Wagner richtet seine Gedanken "sogleich wieder auf das Naheliegende, indem er das Theater in das Auge faßte" (ebd.). Revolutinäres Gedankengut und persönliche Abneigung gegen die bestehenden Zustände führten Wagner zu seinem Entwurf zur "Organisation eines deutschen Nationaltheaters". Darin stehen seine Überlegungen, "wie auch das Theater und die Musik durch jenen Geist gehoben werden könnten" (GS II,233). Neben einer dezidierten Neuorganisation des Theaterbetriebs, in der der Hof als leitendes Organ des Theaters durch einen von künstlerischem und technischem Personal gewählten Intendanten mit weitreichenden Kompetenzen ersetzt werden sollte (man darf annehmen, daß sich Wagner auf diesen Posten selbst Hoffnungen machte), wird in diesem Entwurf erstmals - rudimentär - die Idee des Gesamtkunstwerkes formuliert.

In der theatralischen Kunst vereinigen sich [...] sämtliche Künste zu einem so unmittelbaren Eindruck auf die Öffentlichkeit, wie ihn keine der übrigen Künste für sich allein hervorzubringen vermag. Ihr Wesen ist Vergesellschaftung mit Bewahrung des vollsten Rechts auf Individualität. (GS II,235)

In "Das Kunstwerk der Zukunft" knüpft er später an diese ersten Gedanken zur Erneuerung der Kunst an; im Augenblick machte ihn der Fehlschlag seiner Reformversuche umso empfänglicher für die Revolution. (12) Während Wagner in "Mein Leben", ab dem 17. Juli 1865 Cosima zur Niederschrift diktiert, häufig den Versuch unternahm, seine revolutionäre Gesinnung zu bagatellisieren, ist "Eine Mitteilung an meine Freunde" (GS IV), geschrieben 1851, eindeutiger bestimmt von einer Rechtfertigung der sozialrevolutionären Triebkräfte, die sein Denken und Handeln bestimmten. Eine Reform des Theaters mußte scheitern, so die spätere Einsicht Wagners, weil "aus der Nichtswürdigkeit der politischen und sozialen Zustände [...] sich gerade keine anderen öffentlichen Kunstwerke bedingen konnten, als eben die von mir angegriffenen" (GS IV,308).

Dem Geist der Revolution verschrieb sich der Kapellmeister, weil sich darin "die reine menschliche Natur gegen den politisch-juristischen Formalismus empörte" (GS IV,309). So war die Teilnahme Wagners an der "politischen Erscheinungswelt [...] künstlerischer Natur"; er wurde "Revolutionär zu Gunsten des Theaters" (GS IV,309). Doch auch hier, so muß man feststellen, spielt Wagner sein revolutiomäres Engagement herunter.

Politik, Sozialismus, Communismus. [...] Bei mir - Bruch beschlossen. - Einsamkeit: communistische Ideen über kunstförderliche Gestaltung der Menschheit der Zukunft. (4,113)

Das sind Stichworte, die er in den Annalen des "Braunen Buch" zum Herbst 1848 notiert. Im "Aufruf an die Deutschen" (vgl. ML,376) und in einem Brief an den sächsischen Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung fordert er "sofortige Volksbewaffnung", sowie eine Lösung der Territorialfrage: "Das Parlament muß die einzelnen Staaten erst noch vollkommen revolutionieren. [...] Nichts Sanfteres führt zum Ziel." (zit. n. Krohn. 30,92) In den von Röckel herausgegebenen "Volksblättern" veröffentlicht Wagner im Frühjahr 1949 die Kampfschrift "Die Revolution", in der von der "Göttin Revolution" die Rede ist und in der der Komponist das Ende der Revolution folgendermaßen erträumt: "frohlockende Jubelgesänge der befreiten Menschheit erfüllen die noch vom Kampfgetöse erregte Luft" (zit. n. Wagner-Lexikon: 13,176)

Die direkte politische Lage spitzte sich mehr und mehr zu, als preussische Truppen aufzogen, um Dresden notfalls belagern zu können, und sich in der Stadt Kommunalgarden und sächsisches Militär gegnüberstanden; der Mai-Aufstand brach los. Wagner fühlte sich von einem "großen, ja ausschweifenden Behagen" befallen; "fast dasselbe Phänomen, welches Goethe beschreibt, als er die Kannonade von Valmy auf seine Sinneswahrnehmungen zu verdeutlichen sucht" (ML,405). Mit Bakunin und Röckel stand Wagner auf den Barrikaden, die zum Teil unter der fachkundigen Anleitung des Architekten Gottfried Semper errichtet wurden, diente der provisorischen Regierung der Aufständigen als Abgesandter, Verbindungsmann und Kundschafter. (13)

Als am 6. Mai das preußische Miltär einmarschierte, konnte aller Enthusiasmus konnte verhindern, daß für Röckel, Bakunin, Heubner und viele andere der Aufstand am 8. Mai mit der Verhaftung endete. Wagner entkam aufgrund einer Reihe von Mißverständnissen der Arrestierung und reiste zu seinem Gönner Franz Liszt nach Weimar. Als man nach ihm in Dresden steckbrieflich zu fahnden begann, floh er mit falschen Papieren zunächst nach Paris und von dort endgültig ins Schweizer Exil. In Briefen an Eduard Devrient und an seine Frau Minna zieht er eine erste Bilanz seiner revolutionären Aktivitäten. Er bringt sie erneut in Zusammenhang mit seiner Kunstauffassung.

Das einzige, was mich wahrhaftig lebendig erhielt, war - allerdings der Zweck meines Lebens - mein künstlerisches Produzieren. Auch das haben mir die Umstände verleidet: [...] seit zwei Jahren zersplittere ich denn meine künstlerischen Kräfte ohne Lust und Freude. So bin ich denn endlich Revolutionär geworden [...] und kann zu keiner Freude am Schaffen mehr kommen. Die letzte Katastrophe hat mich insoweit zu mir selbst gebracht, als ich mir dieses traurigen, zerstörten Zustandes vollkommen gewiß ward. (Brief an E. Devrient: 17.5.1849. 25,15)
Die Dresdner Revolution und ihr ganzer Erfolg hat mich nun belehrt, daß ich keineswegs ein eigentlicher Revolutionär bin: ich habe [...] gesehen, daß ein wirklich siegreicher Revolutionär gänzlich ohne Rücksicht verfahren muß, [...] sein einziges Streben ist Vernichtung. [...] Aber nicht Menschen unserer Art sind zu dieser fürchterlichen Aufgabe bestimmt: wir sind nur Revolutionäre, um auf einem frischen Boden aufbauen zu können; nicht das Zerstören reizt uns, sondern das Neugestalten. (Brief an Minna: 14.5.1849. (25,14)

Diese beiden Briefe legen den Schluß nahe, daß sich Wagner von der Revolution endgültig verabschiedet hatte und die neue künstlerische Schaffenskraft suchte. Im späteren Gnadengesuch an den sächsischen König verfährt er ebenso. (14) Der "Glaube an eine gänzliche Umwandlung der politischen und namentlich der sozialen Welt" (zit. n. Gregor-Dellin. 27,868f.), so Wagner, diente lediglich dazu, ein "ideales Verhältnis der Kunst zum Leben zu verwirklichen" (ebd.). Neben aller Reue und devoter Entschuldigung betont Wagner, daß er sich "einer eigentlich strafbaren Handlung [...] wenig bewußt" (ebd.) sei. Nach dem endgültigen Bruch mit der Vergangenheit drängte ihn "eine wirklich krankhafte Exaltation" (ebd.) dazu,

wie zu meiner eigene Rechtfertigung, [...] jene Ideen über Kunst und Leben, die mich einer so heftigen Katastrophe zugeführt, nach Möglichkeit systematisch zu ordnen, ausführlicher zu bearbeiten, und in einer Reihe von literarischen Arbeiten der Öffentlichkeit vorzulegen. (ebd.)

Die revolutionäre Glut glomm weiter, sparsam, gelenkt und weniger bemerkbar, weil sie nicht mehr durch die Hitzigkeit der Tagesereignisse gespeist wurde. Im Exil entstanden Wagners Kunstschriften, in denen sich das Ideen-Gemisch der Revolution mit künstlerischer Produktivität vermengte. Diese Schriften konzipierte Wagner weniger im Sinne einer ästhetischen Theorie, die in ein geschlossenes philosophisches System eingebettet war, sondern mehr im Sinne einer Absichtserklärung, die seine persönliche künstlerische Zukunft betraf. Das Umfeld, in dem die Kunstschriften entstanden, muß folglich stets mitbewertet werden.

Die äußere Biographie Wagners kann (und sollte) als Leitfaden zur Orientierung dienen, um den Revolutionär Wagner in den Zürcher Kunstschriften wiederzufinden, freilich in einer zum Kunst-Revolutionär abgemilderten Form. Der revolutionäre Funke flammt in seinen Werken, namentlich in "Die Kunst und die Revolution" und "Das Kunstwerk der Zukunft" immer wieder auf und er kann auch nicht "durch die gutgemeinten 'Rettungsversuche' einer biederen Wagnerianer-Gemeinde erstickt werden" (Krohn: 30,98)

1.2.2 Das Gesamtkunstwerk der Zukunft

Geschichtsphilosophischer Ausgangspunkt für Wagners Gesamtkunstwerk der Zukunft ist der Gegensatz zwischen antikem Griechentum und moderner Zivilisation. Im antiken griechischem Staat sieht Wagner, hier noch ganz in der Tradition des deutschen Idealismus, einen politischen und gesellschaftlichen Idealzustand, der auch die ideale Kunst in Form der griechischen Tragödie einschloß; wobei die "Kunst als Ergebnis des staatlichen Lebens" und "als soziales Produkt" (GS III,9) zu bewerten ist. Im "Gesamtkunstwerk der griechischen Tragödie" (GS III,12) fand sich der Zuschauer selbst wieder, "vereint mit den edelsten Teilen des Gesamtwesens der Nation" (ebd.). Im Drama waren alle Einzelkünste gesammelt und dienten dem Menschen dazu, "sich selbst zu erfassen, seine Tätigkeit zu begreifen" (GS III,11).

Für die moderne Zivilisation gilt dieser Öffentlichkeitscharakter der Kunst nicht mehr - oder doch in anderer Weise. Nach wie vor ist das Theater (Schauspiel wie Oper) Ausdruck und Spiegel des Zustandes der Allgemeinheit. Der Verlust des Öffentlichkeitscharakters der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts führt konsequenterweise zu ihrer Privatisierung und Kommerzialisierung. Kunst erhält Warencharakter.

Wo der griechische Künstler, außer durch seinen eigenen Genuß am Kunstwerke durch den Erfolg und die öffentliche Zustimmung belohnt wurde, wird der moderne Künstler gehalten und - bezahlt. Und so gelangen wir denn dahin, den wesentlichen Unterschied scharf und fest zu bezeichnen, nämlich: die griechische öffentliche Kunst war eben Kunst, die unsrige - künstlerisches Handwerk. (GS III,24)

Um diese Beurteilung des Künstlers als einen von seiner Arbeit entfremdeten Handwerker zu verstehen, muß die Entwicklungslinie der Gesellschaft betrachtet werden, die Wagner vom Untergang der attischen Polis bis in seine Zeit zieht. Die ökonomische Grundlage des griechischen Staates war die Sklaverei. Der Sklave verrichtete die handwerkliche Arbeit, "die gröbste der häuslichen Hantierungen" (GS III,26), während der freie Grieche nur "in der öffentlichkeit, in der Volksgenossenschaft" (ebd.) lebte, deren Bedürfnisse der Staatsmann und der Künstler, nicht aber der Handwerker, befriedigten. Hier distanziert sich Wagner im Sinne der linken Hegel-Nachfolge deutlich vom idealistischen Griechenland-mythos, denn für Wagner ist die Sklaverei "die verhängnis-volle Angel alles Weltgeschickes geworden" (GS III, 26). Das Ideal der attischen Polis verkommt somit zum Scheinideal:

Der Sklave hat, durch sein bloßes, als notwendig erachtetes Dasein als Sklave, die Nichtigkeit und Flüchtigkeit aller Schönheit und Stärke des griechischen Menschentumes aufgedeckt und für alle Zeiten nachgewiesen, daß Schönheit und Stärke, als Grundzüge des öffentlichen Lebens, nur dann beglückende Dauer haben können, wenn sie allen Menschen eigen sind. (ebd.)

Für Wagner sind im Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht etwa aus Sklaven freie Menschen und Bürger geworden, sondern aus nahezu allen Menschen Sklaven.

Sklaven, denen einst christliche Apostel und Kaiser Konstantin rieten, ein elendes Diesseits geduldig um ein besseres Jenseits hinzugeben; Sklaven, denen heute von Bankiers und Fabrikbesitzern gelehrt wird, den Zweck des Daseins in der handwerklichen Arbeit um das tägliche Brot zu suchen. (GS III, 27)

Frei von Sklaverei waren folglich einst despotische Herrscher, die die Religion als Deckmantel der Macht mißbrauchten, und frei sind im 19. Jahrhundert Menschen, die genügend Geld besitzen, um dem Leben etwas anderes abringen zu können, als den puren Überlebenskampf. Da sich die Kunst als Resultierende des staatlichen Lebens definiert, wundert es nicht, "wenn auch die Kunst nach Gelde geht" (GS III,28); "ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb" (GS III,19). Die Kunst ist nicht mehr als Einheit der Einzelkünste im öffentlichen Bewußtsein vorhanden, denn - analog zur Zersplitterung des gesellschaftlichen (Schein)ideals "in tausend egoistische Richtungen" (GS III,12) - zerfiel auch das "große Gesamtkunstwerk der griechischen Tragödie in die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandteile" (ebd.).

Rhetorik, Bildhauerei, Malerei, Musik, usw. verließen den Reigen, in dem sie vereint sich bewegt hatten, um jede ihren Weg für sich zu gehen, sich selbstständig, aber einsam egoistisch fortzubilden. (GS III, 29)

Lediglich "im Bewußtsein des einzelnen [im Sinne des vereinzelten Künstlers], im Gegensatz zu dem öffentlichen Unbewußtsein davon" (GS III,28) lebt die Einheit der Künste weiter. Hier liegen für Wagner die Aufgaben der großen Menschheitsrevolution, denn "nur die Revolution kann aus tiefstem Grunde das von neuem, und schöner, edler, allgemeiner gebären" (GS III,29), was mit dem Untergang der griechischen Tragödie verschwand. Das "eigentliche Wesen der großen sozialen Bewegung" (GS III,28) ist es, den Menschen "aus dem Handwerkertume heraus zum künstlerischen Menschen-tum, zur freien Menschenwürde" (ebd.) zu führen, aus dem dann die Wiedergeburt der Tragödie als "Fest der Menschheit" (GS III,35) in der Gesellschaft der Zukunft möglich wird.

In "Das Kunstwerk der Zukunft", der zweiten der drei Zürcher Kunstschriften, wird die ästhetische Utopie des Gesamtkunst-werkes von Wagner detailierter ausgeführt. Zu Beginn erhält der dialektische Dreischritt der geschichtlichen Entwicklung (griechischer Staat - moderne Zivilisation - Gesellschaft der Zukunft) eine Erweiterung im Sinne des anthropologischen Materialismus Feuerbachs. Der Mensch lebt in einem naturfremden Gesellschaftszustand, in dem Leben und Wissenschaft, Sinnlichkeit und Intellektualität sich unvermittelt gegenüberstehen. Luxus, "als Bedürfnis ohne Bedürfnis" (GS III,49), bestimmt diesen Kulturzustand, den es in der großen Menschheitsrevolution zu überwinden gilt. Erneut wird Wagners abstrakter Gedankengang politisch und revolutionär. Das "Aufgehen des Egoismus in den Kommunismus" (GS III,51), die Vernichtung des Staates, ist das letzte Ziel der Revolution, und auch die Kunst, die der Kulturzustand - bedingt durch Mode und Manier - nicht kennt, überwindet den Gegensatz von Kunst und Leben. Das Kunstwerk der Zukunft wird ein Gesamtkunstwerk im doppelten Sinne, nämlich zum einen:

Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zugunsten der Erreichung des Gesamtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur. (GS III,60)

Zum anderen stellt es nicht "die willkürliche mögliche Tat des Einzelnen", sondern "das notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft" (ebd.) dar. Das "große allgemeinsame Kunstwerk der Zukunft" (GS III,63) verwirklicht die Wiederkehr der "Totalität der Natur" (GS III,61), nach der sich der "in der modernen Gegenwart unbefriedigte Geist sehnt" (ebd.). Nachdem Wagner die Geschichte der Menschheit als dialektischen Dreischritt von Natur, Kultur und Kunst beschrieben hat, wendet er sich einer genauen Analyse der 1.) "rein menschlichen Kunstarten" (GS III,67) Tanz-, Ton- und Dichtkunst und 2.) den (nach)bildenden Kunstarten Bau-, Bildhauer- und Malerkunst zu. Erstere haben in der Tanzkunst als der realsten aller Kunstarten ihren Ursprung, weil "ihr künstlerischer Stoff der wirkliche, leibliche Mensch, und zwar nicht ein Teil desselben, sondern der ganze Mensch" (GS III,71) ist. Das Gesetz des Rhythmus, als oberstes Gesetz der Tanzkunst, bestimmt die Ton- und Dichtkunst, Melodie und Harmonie haben die beiden letzteren gemeinsam.

Alle drei Kunstarten haben im Untergang der griechischen Tragödie, in der sie vereint waren und sich wechselweise bestimmten, eine Isolation erfahren, die jeweils zu unnatürlichsten Abarten führten. Der Tanz wurde zum manierierten höfischen Tanz, die Tonkunst fand ihren Untergang im Kontrapunkt, der vom sinnlichen Menschen abgelösten Musik. Sie ist nur noch das "künstliche Mitsichselbstspielen der Musik, die Mathematik des Gefühls, mechanischer Rhythmus der egoistischen Harmonie" (GS III,88). Das Drama entfernte sich im Lesedrama am weitesten vom ursprünglichen Gesamtkunstwerk der Tragödie; "das Unerhörte: für die Stumme Lektüre geschriebene Dramen!" (GS III,111).

Allerdings erkennt Wagner in der Vergangenheit vereinzelte Bestrebungen, die egoistische Vereinzelung der Künste zu Überwinden. Im Bezug auf das Drama geschah dies in den Schauspielervereinigungen der Shakespeare-Zeit und auf dem Gebiet der Tonkunst in der symphonischen Musik. Die klassische Symphonie strebt in ihrer Entwicklung dem Wagnerschen Ideal des musikalischen Dramas zu. Haydns Musik ist charakterisiert durch die "rhythmische Tanzmelodie" (GS III,91), Mozart "hauchte seinen Instrumenten den sehnsuchtsvollen Atem des Menschen ein" (ebd.), Beethoven schließlich knüpft in seiner "Neunten Symphonie" die Musik wieder an das dichterische Wort. Diese Symphonie ist das "menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft" (GS III,96).

Nicht anders erging es den bildenden Künsten, in denen "der künstlerische und nach künstlerischer Selbstdarstellung verlangende Mensch nach seinem künstlerischen Bedürfnisse die Natur sich unterordnete, damit sie ihm nach seiner höchsten Absicht diene" (GS III,125). Verdichtende Nachahmung der Natur war ihre Aufgabe: Nachahmung der menschlichen Gestalt in der Skulptur und stilisierte Nachahmung des Götterhains im Säulenumgang des Tempels. Die Baukunst erfuhr ihren Niedergang aus der Privatisierung der ursprünglichen öffentlichen Aufgaben im Tempel- und Theaterbau. Wagner nennt exemplarisch die "widerliche Erscheinung des in das Ungeheure gesteigerten Prunkes der Paläste der Kaiser und Reichen auf der einen Seite, und der bloßen [...] Nützlichkeit in den öffentlichen Bauwerken" (GS III,127) auf der anderen. Die Bildhauerkunst wiederum lebte ursprünglich aus der "sinnlichen Schönheit des menschlichen Leibes" (GS III,134) und wurde im Verlauf der Geschichte zur "Mumie des Griechentums" (GS III,137).

Die neuzeitliche Bilhauerkunst, so Wagner, orientiert sich nur noch am "schönen Gestein, nicht an dem wirklichen Leben" (GS III,138). Die Malerei strebte zwar als jüngste, gewissermaßen nachgeborene der drei bildenden Künste nach "dem sehnsüchtigen Bedürfnisse [...], das verloren gegangene, menschlich lebendige Kunstwerk der Erinnerung wieder vorzuführen" (GS III,141), war aber von vorneherein ein Produkt wachsender Entfremdung der Kunst vom Leben. Ihre Werke sind "an der einsamen Zimmerwand des Egoisten" oder "in beziehungsloser, unzusammenhängender und entstellender Übereinanderschichtung in einem Bildspeicher" (nämlich im Museum) (GS III,153) zu sehen.

Die umfassende Idee des Gesamtkunstwerkes gründet sich bei Wagner auf die beiden Hauptaspekte der bisher beschriebenen ästhetischen Utopie. Das Kunstwerk der Zukunft ist das musikalische Drama, in dem die verlorene Einheit der Künste wieder hergestellt sein wird, und der Künstler der Zukunft ist die "Genossenschaft aller Künstler" (GS III,161), daß heißt, da Kunst und Leben nach der großen Menschheitsrevolution nicht mehr getrennt sein werden, das Volk der Inbegriff der zu sich selbst befreiten Menschheit ist (GS III,169). "Das wahre Streben der Kunst ist daher das Allumfassende [...], die Verherrlichung des Menschen in der Kunst überhaupt" (GS III,150). Das musikalische Drama stellt gewissermaßen die Reinkarnation der griechischen Tragödie mit Öffentlichkeitscharakter in einer umfassenden freien Gesellschaft ohne Sklaven dar:

Nach seiner möglichen Fülle kann es nur vorhanden sein, wenn in ihm jede Kunstart in ihrer höchsten Fülle vorhanden ist. Das wahre Drama ist nur denkbar als aus dem gemeinsamen Drange aller Künste zur unmittelbarsten Mitteilung an eine gemeinsame Öffentlichkeit hervorgehend: jede einzelne Kunstart vermag der gemeinsamen Öffentlichkeit zum vollen Verständnisse nur durch gemeinsame Mitteilung mit den übrigen Kunstarten im Drama sich zu erschließen, denn die Absicht jeder einzelnen Kunstart wird nur im gegenseitig sich verständigenden und verständnisgebenden Zusammenwirken aller Kunstarten vollständig erreicht. (GS III,150)

Nicht nur die drei rein menschlichen Künste tragen ihren Teil zum umfassenden Kunstwerk bei, sondern auch die drei nachbildenden Künste. Die Architektur löst sich vom "gewöhnlichen Nutzgebäude" (ebd.), in dem es "willkürlich, unproduktiv, unschön" dem Luxus dient (ebd.), und schafft mit der Konstruktion des Theaters ein Gebäude, "das in allen seinen Teilen einzig einem gemeinsamen künstlerischen Zwecke" dient (ebd.). Die Malerei (spez. die Landschaftsmalerei) wird den "weiten Rahmen der tragischen Bühne erfüllen und den ganzen Raum der Szene zum Zeugnis seiner [d.i. des Künstlers] naturschöpferischen Kraft gestalten" (GS III,153).

Für die Skulptur bedeutet das Kunstwerk der Zukunft die "Entzauberung des Steines in das Fleisch und Blut des Menschen, aus dem Bewegungslosen in die Bewegung, aus dem Monumentalen [im Sinne von Monument: dem Leben und der Natur als zeitlos entfremdet] in das Gegenwärtige" (GS III,140). Der Darsteller wird zur lebenden Skulptur, zum "mimischen Tänzer", der zugleich "singen und sprechen kann" (GS III,156). Neu am Kunstwerk der Zukunft gegenüber der griechischen Tragödie ist das symphonische Orchester: "die Tonsprache Beethovens, durch das Orchester in das Drama eingeführt, ist ein ganz neues Moment für das dramatische Kunstwerk" (GS III,156).

Das Orchester ist sozusagen der Boden unendlichen, allgemeinsamen Gefühles, aus dem das individuelle Gefühl des einzelnen Dar-stellers zur höchsten Fülle herauszuwachsen vermag: es löst den starren, unbeweglichen Boden der wirklichen Szene gewissermaßen in eine flüssigweich nachgiebige, eindruckempfängliche, ätherische Fläche auf, deren ungemessener Grund das Meer des Gefühles selbst ist. (GS III,157) (15)

In den losen Schlußabsätzen von "Das Kunstwerk der Zukunft" konkretisiert Wagner nochmals die entscheidenden Grundbedingungen der großen Menschheitsrevolution, welche das Gesamtkunstwerk der Zukunft erst ermöglichen werden. Es sind dies: a) die Abschaffung aller bürgerlichen Eigentumsverhältnisse und: b) die Aufhebung des Staates, der keine andere Aufgabe habe, als diese überkommenen Eigentumsverhältnisse zu konservieren. Wagners Idee des Gesamtkunstwerkes kann folglich nur in einer postrevolutionären Gesellschaft Realität werden. Ein Brief an den Freund Theodor Uhlig, Violinist und Musikschriftsteller in Dresden, verdeutlicht, wie sehr dieser sozial-revolutionäre Gedanke auch in die Konzeption des "Ring" und der damit verbundenen Festspielidee einfloß:

Mit dieser meiner neuen Konzeption trete ich gänzlich aus allem Bezug zu unserem heutigen Theater und Publikum heraus: ich breche bestimmt und für immer mit der formellen Gegenwart. [...] An eine Aufführung kann ich erst nach der Revolution denken; erst die Revolution kann mir die Künstler und die Zuhörer zuführen. Die nächste Revolution muß notwendig unsrer ganzen Theaterwirtschaft das Ende bringen: sie müssen und werden alles zusammenbrechen, dies ist unausbleiblich. Aus den Trümmern rufe ich mir zusammen, was ich brauche: ich werde, was ich bedarf, dann finden. Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf und lade zu einem großen Feste ein: nach einem Jahr Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf: mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen, das jetztige kann es nicht. (Brief v. 12. Nov. 1851. 25,18)

1.2.3 Das Musikdrama

"Oper und Drama" (16), das letzte und zugleich umfangreichste Werk der Zürcher Kunstschriften, konzentriert sich auf die Ästhetik des Musikdramas. Das soll verwirklicht werden aus der Synthese von Oper (dem Wesen der Musik (Teil I)) und Schauspiel (dem Wesen der dramatischen Dichtkunst (Teil II)). (17) In einem Brief an Theodor Uhlig hat Wagner während der Niederschrift die Hauptgedanken metaphorisch folgendermaßen umschrieben:

I. Darstellung des Wesens der Oper bis auf unsere Tage, mit dem Resultate, "die Musik ist ein gebärender Organismus (Beethoven hat ihn gleichsam zum Gebären der Melodie geübt) - also ein weiblicher". - II. Darstellung des Wesens des Dramas von Shakespeare bis auf unsere Tage: Resultat, "der dichterische Verstand ist ein zeugender Organismus, die dichterische Absicht der befruchtende Same, der nur in der Liebeserregung entsteht und der Drang zur Befruchtung eines weiblichen Organismus ist, der den Samen - in der Liebe empfangen - gebären muß." III. [...] "Darstellung des Gebärungsaktes der dichterischen Absicht durch die vollendete Tonsprache." (Brief vom Dezember 1850. Zit. n. Wagner-Lexikon. 13,153)

Für Wagner bestand der größte Irrtum des Kunstgenre Oper darin, "daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) zum Mittel gemacht" (OuD,19) wurde und daß das Drama bzw. die Dichtkunst im Sinne des Librettos mißbraucht wurde: prima la parola, doppo la musica. Die Oper als Folge von Arien, Rezitativen und Ballettnummern diente allein dem Sänger (resp. dem Tänzer) zur "Darlegung seiner Kunstfertigkeit" (OuD,24); der "Komponist legte nur dem Sänger, der Dichter wiederum dem Komponisten das Material zu dessen Virtuosität zurecht" (ebd.).

Im Verlauf der Geschichte der Oper vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart sieht Wagner einen anhaltenden Verdrängungsprozeß des dramatischen Dichters zugunsten der absoluten Musik, die in der Grande Opéra Meyerbeers ihren vorläufigen Gipfelpunkt fand, und die, bei Aufbietung aller musikalischer und theatralischer Mittel, nur durch den "Effekt", "der Wirkung ohne Ursache" (OuD,101), definiert ist:

Meyerbeer brachte es dahin, daß ihm als feinste Schmeichelei gesagt wurde, die Texte seiner Opern seien sehr schlecht und erbärmlich, aber was verstünde die Musik aus diesem elenden Zeuge zu machen! - So war der vollste Triumph der Musik erreicht: der Komponist hatte den Dichter in Grund und Boden ruiniert, und auf den Trümmern der Operndichtkunst ward der Musiker als eigentlicher wirklicher Dichter gekrönt. (OuD,101)

Anknüpfungspunkt für das von Wagner intendierte musikalische Drama kann also nicht die Oper sein, weil in ihr "jenes Mittel des Ausdruckes [die Musik] aus sich die Absicht des Dramas bedingen wollte" (OuD, 108), sondern nur die symphonische Musik, die sich - wie bereits in "Das Kunstwerk der Zukunft" ausgeführt - losgelöst vom dichterischen Wort zunächst ihre Formensprache entwickelt hat und namentlich in der "Symphonie Nr. 9" von Beethoven nun bestrebt ist, sich dem gleichberechtigtem dichterischen Wort wieder zu nähern.

Teil II von "Oper und Drama" wendet sich der Zustandsbeschreibung des neuzeitlichen Theaters zu. War der Irrtum der Oper, das Drama absolut aus der Musik erzeugen zu wollen, so will das Schauspiel nichts anderes sein als ein "Literaturzweig, eine Gattung der Dichtkunst wie Roman oder Lehrgedicht, nur mit dem Unterschiede, daß jenes, anstatt bloß gelesen, von verschiedenen Personen auswendig gelernt, deklamiert, von Gesten begleitet und von Theaterlampen beleuchtet werden soll" (OuD,130).

Wagner unterscheidet zwei Ausgangspunkte neuzeitlichen Theaters; den Roman auf der einen Seite und das klassizistische Drama in der Nachfolge Aristoteles' auf der anderen. Für Wagner stellt das Shakespearsche Drama, mit dem das neuzeitliche Schauspiel einsetzt, eine Umsetzung des Romans, als der eigentlichen Kunstgattung des prosaisch bürgerlichen Zeitalters, dar. Diese Strukturverwandschaft zeigt sich in zwei Eigenschaften: (1) in seiner "Vielstoffigkeit" und "ungeheuerlichen Vielhandligkeit" (OuD,136), nämlich dem amorphen Charakter, im Nebeneinander mehrerer Handlungsstränge, im ständigen Wechsel der Szene, in der Vielzahl der dramatischen Personen; (2) in der Außenbestimmtheit der handelnden Personen, das heißt ihrer Determination durch die historisch-soziale Umgebung. "Um verständlich zu werden, muß er [der Romandichter] umständlich werden" (OuD,180), er muß die Handlung "aus der äußeren Notwendigkeit der Umgebung begreiflich machen (OuD,179), sie als "sozialen Niederschlag geschichtlicher Ereignisse" (OuD,148) festhalten.

Den Roman und das darauf fußende Schauspiel sieht Wagner als Entsprechung der bürgerlichen Gesellschaft und der darin vorhandenen Vereinzelung und Determination des Individuums an. Der Roman "ging auf Darstellung der Wirklichkeit aus, und sein Bemühen war so echt, daß er vor dieser Wirklichkeit sich als Kunstwerk endlich selbst vernichtete" (OuD,181) und notwendigerweise in der "praktischen Politik" endete (OuD,178). Als Gegenpol zur Adaption des Romans für die Bühne sieht Wagner die Haute Tragédie Racines. Sie ist eine nur "äußerliche und damit entstellende Nachahmung und Wiederholung der griechischen Tragödie" (OuD,142).

War der Roman geprägt durch eine offene Form, so stellt die mißverstandene Restauration der aristotelischen Tragödie eine geschlossenen Form dar, eine historische Sackgasse. "Zwischen diesen äußersten Gegen-sätzen [...] erwuchs nun [...] das moderne Drama in seiner zwitterhaften, unnatürlichen Gestalt" (OuD,142), wie sie besonders das zwischen beiden Polen schwankende historische Drama Schillers zeigt, das Wagner zwangsläufig strikt ablehnt:

Der Dichter, der es versuchte, mit Umgehung der chronistischen Genauigkeit geschichtliche Stoffe zu verarbeiten [eine andere dramatische Verarbeitung von Geschichte gibt es nicht], und zu diesem Zwecke über den Tatbestand der Geschichte nach willkürlichem, künstlerisch formellen Ermessen verfügte, konnte weder Geschichte noch aber auch ein Drama zustande bringen. (OuD,153)

Das musikalische Drama der Zukunft dagegen findet seinen dichterischen Anknüpfungspunkt im Mythos, der der geschichtlichen und sozialen "Vielstoffigkeit" und "Vielhandligkeit" des Romans entgegentritt, und zwar nicht nur als bloße Nachahmung und Wiederholung antiker und archaischer Mythen im Sinne der Haute Tragédie Racines. Für Wagner ist der Mythos eine "große Handlung in einem weiten Kreise von Beziehungen" (OuD,218), der an die Stelle der gespiegelten Wirklichkeit im Roman die Fiktion einer gedachten Wirklichkeit setzt, die als "Verdichtung" (OuD,218) und "Steigerung" (OuD,225) die Komplexität der Wirklichkeit nicht auflöst, sondern erst begreiflich macht. Ferner ist der Mythos bei Wagner überindividueller Ausdruck einer neuen Kollektivität und ermöglicht so die Überwindung der prosaischen und partikularen Existenz des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft.

So ist das Kunstschaffen im Drama ein organisches, im Roman ein mechanisches; denn das Drama gibt uns den Menschen, der Roman erklärt uns den Staatsbürger; jenes zeigt uns die Fülle der menschlichen Natur, dieser entschuldigt ihre Dürftigkeit aus dem Staat: das Drama gestaltet sonach aus innerer Notwendigkeit, der Roman aus äußerlichem Zwange. (OuD,180) (18)

Der weitere Gedankengang Wagners über das wahre musikalische Drama (dem Drama der Zukunft) orientiert sich wieder an dem in "Die Kunst und die Revolution" und "Das Kunstwerk der Zukunft" entwickeltem Dreischritt von Naturzustand (bzw. antikem Griechentum), Kulturzustand (bzw. moderner Zivilisation) und zukünftigem Menschentum. Die Urpoesie der Lyrik, als adäquater Ausdruck des Naturzustandes, wendet sich an das Gefühl. Getragen wird die Lyrik vom "ursprünglichen und schöpferischen Bund der Gebärden-, Ton- und Wortsprache" (OuD,229). Der Roman dagegen als Ausdruck der modernen Zivilisation (des Kulturzustandes) verfügt nur über das "Organ des dichtenden Verstandes" (OuD,229), wobei der Verstand das Gegenteil des Gefühls ist. Das musikalische Drama wiederum leistet "die Gefühlswerdung des Verstandes" (OuD,215), indem es auf höherer Ebene die Einheit von Gefühl und Verstand erwirkt:

Die Tonsprache ist Anfang und Ende der Wortsprache, wie das Gefühl Anfang und Ende des Verstandes, der Mythos Anfang und Ende der Geschichte, die Lyrik Anfang und Ende der Dichtkunst ist. Die Vermittlerin zwischen Anfang und Mittelpunkt, wie zwischen diesem und dem Ausgangspunkte, ist die Phantasie. Der Gang dieser Entwicklung ist aber ein solcher, daß er nicht eine Rückkehr, sondern ein Fortschritt bis zum Gewinn der höchsten menschlichen Fähigkeit ist. (OuD,230)

Dieses dialektische Modell der fortschreitenden Entwicklung bis hin zum musikalischen Drama wird am anschaulichsten in der Figur, die Wagner ursprünglich für den Erstdruck von "Oper und Drama" vorsah.

---- LEERSTELLE FÜR DIE ABBILDUNG ----

Im dritten Teil von "Oper und Drama" versucht Wagner, die Synthese von Tonkunst und Dichtkunst im Sinne eines Organismus der vielseitigen Verflechtung zu entfalten. Im Mittelpunkt stehen dabei (a) Stabreim und Wortvers bzw. Wortversmelodie als kleinste formale Einheiten des Dramas ("in welchem viele solcher Perioden nach höchster Fülle sich so darstellen, daß sie, zur Verwirklichung einer höchsten dichterischen Absicht, eine aus der anderen sich bedingen und zu einer reichen Gesamtkundgebung sich entwickeln" (OuD,308)), (b) die Rolle des Orchesters, das die Fähigkeit besitzt "Unaussprechliches kund zu geben" (OuD,329) und dem deshalb im Drama der Zukunft die Rolle des Tragödienchores zugewiesen wird und (c) die Technik der Leitmotivverkettung.

Der lebensgebende Mittelpunkt des dramatischen Ausdrucks ist die Versmelodie des Darstellers: auf sie bezieht sich als Ahnung die vorbereitende absolute Orchestermelodie; aus ihr leitet sich als Erinnerung der "Gedanke" des Instrumentalmotives her. [...] Die dem Auge sinnfällige, stets gegenwärtige Erscheinung und Bewegung des Verkünders der Versmelodie, des Darstellers, ist die dramatische Gebärde; sie wird dem Gehöre verdeutlicht durch das Orchester, das seine ursprünglichste und notwendigste Wirksamkeit als harmonische Trägerin der Versmelodie selbst abschließt. - An dem Gesamtausdrucke aller Mitteilungen des Darstellers an das Gehör, wie an das Auge nimmt das Orchester somit einen ununterbrochenen, nach jeder Seite hin tragenden und verdeutlichenden Anteil: es ist der Bewegungsvolle Mutterschoß der Musik, aus dem das einigende Band des Ausdrucks erwächst. - Der Chor der griechischen Tragödie hat seine gefühlsnotwendige Bedeutung für das Drama im modernen Orchester allein zurückgelassen, um in ihm, frei von aller Beengung, zu unermeßlich mannigfaltiger Kundgebung sich zu entwickeln. (OuD,349)

Die Leitmotive werden dabei "durch das Orchester gewissermaßen zu Gefühlswegweisern durch den ganzen vielgewundenen Bau des Dramas; an ihnen werden wir zu steten Mitwissern des tiefsten Geheimnisses der dichterischen Absicht" (OuD,360). Das komplexe Motivgeflecht hat im stetigen Wechsel von 'Ahnung' (Orchestermelodie), Gegenwart (Versmelodie) und 'Erinnerung' (Instrumentalmotiv) darüber hinaus die Funktion, das Publikum in das Drama einzubeziehen, es zum "notwendigen Mitschöpfer des Kunstwerkes" (OuD,344) zu machen. (19)

In den letzten Abschnitten des Werkes hebt Wagner nochmals explizit den Charakter der ästhetischen und zugleich sozialen Utopie seiner Dramenkonzeption hervor, denn "jenes Leben der Zukunft wird aber ganz das, was es sein kann, nur dadurch sein, daß es dieses Kunstwerk in sich aufnimmt" (OuD,392). Gleichzeitig verweist er in den letzten Zeilen darauf, daß jegliche fortschrittliche (im Sinne von: zukünftig ausgerichtete) Kunst notwendigerweise utopische Züge in sich trägt:

Der Erzeuger des Kunstwerkes der Zukunft ist niemand anderes als der Künstler der Gegenwart, der das Leben der Zukunft ahnt, und in ihm enthalten zu sein sich sehnt. Wer diese Sehnsucht aus seinem eigensten Vermögen in sich nährt, der lebt schon jetzt in einem besseren Leben - nur einer aber kann dies: - Der Künstler.

Das aber ist auch die entgültige Aufgabe der Revolution. Die Kunst, im besonderen aber seine eigene Konzeption des Dramas, wird für Wagner zu einem Surrogat für die Revolution und gleichzeitig, im Sinne einer Utopie, zur Vorahnung einer nachrevolutionären Gesellschaft.

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(12) Der Entwurf berücksichtigte ferner die Anhebung der Gehälter, die Gründung einer Dichtervereinigung, allgemeine Demokratisierung im Theaterbetrieb, kollektive Selbstverwaltung, sowie die Einrichtung einer Chor- und Orchesterschule. Die am 15. Mai dem zuständigen Minister des Inneren eingereichte Schrift wurde mit negativem Bescheid wenige Tage später an das Direktorium des Theaters zurückgewiesen. (zurück)

(13) Daß Wagner möglicherweise in weit höherem Ausmaß in die Kämpfe involviert war, als es hier den Anschein hat, soll ein Ausschnitt aus der Polizei-Akte, die nach seiner Flucht angelegt wurde, verdeutlichen: "Der Gelbgießer Oehme, einer der am meisten gravirten Theilnehmer am Aufstande [...] beschuldigt Wagnern, daß derselbe und Röckel eine bedeutende Anzahl Handgranaten bei ihm bestellt und anfertigen lassen" (n. Wagner-Lexikon: 13,178). Bewiesen wurde dies freilich niemals, aber es ist durchaus denkbar. Auch die nicht rechtmäßige Requirierung der Gewehre des Dresdner Jagdvereines zur Bewaffnung der Aufständigen geht auf Wagners Konto. Daß die Brandstiftung an der Oper in Dresden ebenfalls eine Tat Wagners - quasi als persönlicher Racheakt des gekränkten Kapellmeisters - war, ist allderings nicht haltbar. Das Entzünden der Oper erfolgte wohl mehr aus strategischen Gründen seitens des Militärs. (zurück)

(14) Geschrieben am 15. Mai 1856 in Zürich. Das Gnadengesuch wurde abgelehnt, und somit war es Wagner nach wie vor verwehrt, in das Königkreich Sachsen einzureisen. (zurück)

(15) Friedrich Nietzsche hat in "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" dieses Prinzip genau und umfassend analysiert. Für ihn sind dabei das Dionysische und das Apollinische Grundkonstituenten des musikalischen Dramas Wagners. Nietzsche geht dabei, anders als Wagner selbst, auch sehr genau auf die Wirkung der Musik, als Grundlage der Szene und des Wortes, auf den Zuschauer ein. (zurück)

(16) Im folgenden zitiere ich nach der kritischen Neuausgabe auf der Basis der 1. Aufl. aus dem Jahr 1851: Hg. und kommentiert von Klaus Kropfinger, Stuttgart [Reclam UB] 1984. [OuD] (zurück)

(17) Aufgrund des enormen Umfangs des Werkes können hier nur die grobe Struktur und die wichtigsten Gedanken erfaßt und skizziert werden. "Oper und Drama" ist, wie Wagners Kunstschriften generell, auf möglichst genaue und unverfängliche Darstellung bedacht. Durch die genauen Analysen der Musik- und Theatergeschichte, sowie durch Wagners Hang, alle Ergebnisse aus dialektischen Diskursen umständlich herleiten zu wollen, wurde die Schrift zu dem, was sie ist: ein umfangreiches und durch Wagners ausladenden Stil schwer goutierbares theoretisches Werk, das kaum jemand vollständig liest. (zurück)

(18) Wagner schaltet an dieser Stelle seiner Schrift eine ausführliche Interpretation des Ödipus-Mythos ein, der ein verdichtetes "Bild der ganzen Geschichte der Menschheit vom Anfang der Gesellschaft bis zum notwendigen Untergang des Staates darstellt" (OuD,200). In der Ödipus-Tragödie ist das Mißverhältnis von freier Selbstbestimmung des Menschen und Wilkür des Staates (der Eigentumsgesellschaft) verdeutlicht. Auch "Oper und Drama" trägt somit in einem Teil politische Züge. Zum anderen findet Wagner im Mythos das sich aus 'innerer Notwendigkeit' entwickelnde 'Reinmenschliche', die Urkraft der Gefühlsqualitäten Liebe, Haß, Leid usw. Das 'Reinmenschliche' bewirkt im musikalischen Drama letztlich erst die höchste dramatische Wirkung. Der Mythos dient bei Wagner also zur Verdeutlichung der sozial-politischen Dimension des Dramas und als Grundlage echter dramatischer Handlung überhaupt. (zurück)

(19) Es ließe sich in einer mathematischen Darstellungsweise folgende Formel aufstellen:
Stabreim + Stabreim + ... = Wortversmelodie.
Instrumentalmotiv + Instrumentalmotiv + ... = Orchestermelodie.
Vgl. auch die Analyse Klaus Kropfingers (OuD,486-495). Hier findet sich neben weiteren Einzelheiten eine genaue Erklärung des Systems der verschiedenen Motivstrukturen. (zurück)