Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

2.2 Werkstatt Bayreuth

Nach dem Tod Wieland Wagners im Jahr 1966 übernimmt Wolfgang Wagner allein die Verantwortung über die Festspiele. Nach einer kurzen Übergangszeit, in der Inszenierungen Wielands weitergespielt und durch Inszenierungen Wolfgang Wagners ergänzt werden, bricht in den 70er Jahren eine weitere Epoche Bayreuther Bühnengeschichte an; die Festspiele werden zur Werkstatt der Interpretation. Konnte man bislang trotz der künstlerischen Verschiedenheit der beiden Brüder von einem Bayreuther Stil sprechen, so tritt nun durch die Verpflichtung junger und engagierter Regisseure ein Nebeneinander verschiedener Inszenierungsstile an dessen Stelle. "Die schöpferischen Impulse gehen nicht mehr von Bayreuth aus, sondern anderswo gemachte Wagner-Erfahrungen müssen hier gesammelt und verarbeitet werden", schreibt der Kritiker Hans-Klaus Jungheinrich - anläßlich Chéreaus "Ring" - in einer Beurteilung des Bayreuther Regiestils der letzten Jahre; eine zumindest für die frühen 70er Jahre richtige Einschätzung. (31)

Einer der bedeutensten Ausgangspunkte für neue Wagner-Erfahrungen, die zur Ablösung des Neu-Bayreuther Stils als führenden Wagnerstil beitragen, ist die Schule Walter Felsensteins. Er tritt für ein zeitbezogenes und realistisches Musiktheater ein. Sein Schüler Joachim Herz ist einer der ersten, der eine Oper Wagners in direkten Bezug zur Entstehungszeit setzt. 1962 inszeniert er den "Fliegenden Holländer" an der Komischen Oper Berlin als Drama des bürgerlichen Milieus des Vormärz; Dalands Schiff ist ein Raddampfer, und die Begegnung des Holländers mit Senta findet ganz bürgerlich-realistisch am Wohnzimmertisch statt. Der "Fliegende Holländer" spielt in der Welt Ibsens, und in den frühen 70er Jahren unseres Jahrhunderts wird es ausgesprochene Mode, Wagners Opern im Ambiente des 19. Jahrhunderts spielen zu lassen.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier ausdrücklich betont, daß es sich dabei nicht um die Wiederherstellung der Inszenierungstraditionen des 19. Jahrhunderts handelt, sondern um den Versuch, das 19. Jahrhundert als Keimzelle und Geburtsstätte des Industriellen Zeitalters zu thematisieren. (32)

Ein weiteres Kennzeichen der neuen Inszenierungen ist, daß die Heterogenität des Wagnerschen Werkes, die enorme Breite der Deutungsskala, nicht mit Stilisierung umgangen, sondern brüchig und widersprüchlich mitinszeniert wird. Das ist die Umsetzung dessen, was Adorno fordert, nämlich die Ambivalenz und Brüchigkeit des Wagnerschen Werkes nicht zuzuschminken, sondern über die Brüche in der Inszenierung Rechenschaft abzulegen.

Anläßlich des 100. Jubiläums der Bayreuther Festspiele (das im Jahr 1976 ansteht) erfährt besonders Wagners "Ring" eine Vielzahl von Neuinszenierungen. Doch nicht nur das Jubiläum ist dafür Grund, sondern nach 1968 scheint zahlreichen Regisseuren der "Ring" auch als revolutionäres und politisches Drama hochaktuell zu sein.

Ab 1970 zeigen Ulrich Melchinger und sein Bühnenbildner Thomas Richter-Forgach in Kassel einen "Ring", der vor allem unbekümmerter Protest gegen erstarrte Ästhetik, gegen Interpretationsdogmatik und gegen die zementierte Forderung nach bruchloser Konzeption ist. "Das heimliche Verlangen nach Beschönigung und Harmonisierung der Gegensätze" (Melchinger. 42,39) wird vehement zerstört; Wagners Mythen zeigen, so Melchinger, die "Wurzeln vieler Denkweisen auf, die zu den Katastrophen des 20. Jahrhundert geführt haben" (42,29) und das, was Wagner "mit revolutionären Engagement aufgedeckt und kritisiert hat" (ebd.), gilt es auf der Bühne zu zeigen. Melchingers Inszenierung, oft fälschlich und unscharf mit 'Science Fiction' umschrieben, schreckt dabei auch nicht vor offener Parodie zurück.

Ab 1972 zeigen Joachim Herz und Rudolph Heinrich den "Ring" in Leipzig zum ersten mal als bündige, politische Allegorie; mit großer Verspätung sozusagen eine "Ring"-Inszenierung von G.B. Shaw. Dieser "Ring" ist in seinen collagierten Bildern klar auf die industrielle und großbürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts bezogen. Eine Inszenierung mit deutlich erkennbarem politischen Ansatz, der die Utopie einer besseren Welt durch bessere Politik nicht ausschließt. Es folgen Günther Rennert in München (1975), Götz Friedrich in London (1974-76), Jean-Claude Riber in Genf (1975-77) und viele andere.

Im Gegensatz zum Neubayreuther Konzept der Zeitunabhängigkeit der Wagnerschen Mythen, wird in all den genannten Inszenierungen Zeitbezogenheit deutlich intendiert. Gesellschaftliche Fragen des 19. Jahrhunderts, Ideologiegeschichte und Ideologiekritik bestimmen die Interpretation. Neu-Bayreuth setzte sich mit den Zeitlosen Strukturen und Inhalten der Wagnerschen Werke auseinander. Es verzichtete dabei auf geographische und nationale Eindeutigkeiten, und Wieland Wagners Stil war somit ein Versuch, Wagners Werk aus nationalen Beschränkungen zu lösen, deren historisch jüngste die ideologische Vereinnahmung durch die Nazionalsozialisten war. Das Werk Wagners sollte einem weiten Kreis von Nationen ohne Vorbehalt geöffnet werden. Also ist auch Wieland Wagners Theater eine Antwort auf aktuelles und jüngst vergangenes Zeitgeschehen, ist trotz intendierter Zeitunabhängigkeit eine Antwort auf den Zeitgeist der Gesellschaft, in der Wieland Wagner lebte.

Die Inszenierungen der 70er Jahre beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Mythologie und Ideologie, der immer noch vor-handenen politischen Aktualität Wagners, verzichten aber - wie der Neu-Bayreuther Stil - auf die eindeutige Fixier-barkeit dieser politischen Aktualität; sie besitzt internationalen, allgemeingültigen Charakter. Die Re-Politisierung des Werkes Wagners verläuft jenseits ideologischer Vereinnahmung, zeigt zwar Ideologie im Werk Wagners auf, fordert aber die Verwirklichung nicht ein.

Wolfgang Wagner verpflanzt diesen bereits in voller Blüte stehenden Zweig der Wagner-Interpretation 1972 nach Bayreuth. Er engagiert Götz Friedrich, wie Herz ein Schüler Felsensteins. Friedrich inszeniert den "Tannhäuser" (Bühnenbild: Jürgen Rose) als Tragödie des Künstlers, der an der Gesellschaft zerbricht; dieser "Tannhäuser" war gleicher-maßen ein Kommentar zur Situation des Künstler-Genies Wagner zu seiner Zeit, ein Beitrag zur Situation des Künstlers im Dritten Reich und nicht zuletzt ein Angriff auf das groß-bürgerliche Publikum in Bayreuth selbst. Harry Kupfers Inszenierung des "Fliegenden Holländer" (1978) als Traum Sentas, gespickt mit tiefenpsychologischen Anspielungen und ohne den versöhnenden und kitschigen Schluß der Zweiten Fassung, folgt. Das Publikum quittierte diese Irritation der Seh- und Hörgewöhnheiten mit heftiger Ablehnung, in die sich aber auch breite und enthusiastische Zustimmung mischte. Wolfgang Wagner hat den Werkstatt-Charakter, den er den Festspielen gab stets verteidigt.

Bloß eine auslaufende großbürgerliche Zeit in Bayreuth zu konservieren, diese Konzeption ist von den Ereignissen längst überholt. [...] Für viele Alt-Wagnerianer ist innerhalb der Wagnerschen Werke die Welt in sich aufgegangen. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß es alles offene Schlüsse sind. (39,7)

Offene Schlüsse fordern immer neue Auseinandersetzungen, machen ständiges Hinterfragen und immer neue Ansätze nötig, und die Bayreuther Inszenierungen sind mit der Premiere keinesfalls abgeschlossene Arbeiten. Wolfgang Wagner steht zu seinen Inszenatoren, ermöglicht ihnen, gegen alle Proteststürme ankämpfend, die Werkstatt Bayreuth mit allen verfügbaren Werkzeugen zu nutzen.

Richard Wagner kehrt zurück in das Laboratorium namens Bühne, wo, nur scheinbar respektlos, probiert wird und wo nun nichts mehr heilig, besser: schein-heilig ist. Seine eigene Devise, Neues zu schaffen, wird beim Wort genommen, bis die Fetzen fliegen. Selbst Bayreuth, der Hort, auf den so lange Verlaß war, nennt sich nun "Werkstatt". Da fallen Späne, und da wirbelt Staub. (K. Umbach. 44,31)

Schließlich holt Wolfgang Wagner das Fernsehen nach Bayreuth, eine weitere (letzte?) Bastion fällt. Mit Friedrichs "Tannhäuser" wird am Neujahrstag 1979 erstmals eine Festspiel-Inszenierung im Fernsehen ausgestrahlt und einer breiten Öffentlichkeit zugeführt; 1981 folgt der erste Teil des "Ring". Wolfgang Wagner kommentiert lapidar: "Wir müssen uns ja mit den Möglichkeiten der Massenmedien auseinandersetzen!" (39,8). Fernsehübertragungen sind nur eine weitere Facette des Bayreuther Werkstattgedankens, den Wolfgang Wagner folgendermaßen charakterisiert:

Richard Wagners Werk muß immer wieder von unserer Gegenwart aus gefordert und gemessen werden, es muß uns unmittelbar betreffen. Dazu müssen moderne wissenschaftliche und technische Erkenntnisse und zeitgemäße Stilmittel eingearbeitet werden. Die ständige, lebendige Auseinander-setzung mit dem Aktuellen, mit unserer Gegenwart, das ist es, was wir mit dem Begriff Werkstatt Bayreuth zusammenfassen. (Zit. n. O.G.Bauer: 15,302)

Ein Statement, das möglicherweise ganz im Sinne Richard Wagners ist, der schließlich mit der Festspielidee und dem "Ring" auch eine Auseinandersetzung mit seiner Zeit anstrebte und der seinen Darstellern bei der Uraufführung des "Ring" nur eine Anweisung mit auf den Weg gab: "Kinder, macht Neues!"

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(31) In: FRANKFURTER RUNDSCHAU, Frankfurt. 31.7.1976 (zurück)

(32) In diesem Zusammenhang muß konsequenterweise auch auf die Inszenierung des "Peer Gynt" von Ibsen durch Peter Stein an der Schaubühne Berlin hingewiesen werden. Stein verfuhr bei der Verarbeitung und Bewältigung des 19. Jahrhunderts ähnlich. (zurück)